Zukunft der Bibliotheken : Rettet die Zettel!
Die Berliner Staatsbibliothek will ihre Zettelkästen mit Millionen von Karteikarten wegwerfen. Es ist nicht nostalgisch zu sagen: Das darf auf keinen Fall passieren.

taz FUTURZWEI | Die Berliner Staatsbibliothek, liebevoll Stabi gerufen, ist der Zentralort der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Seit 1990 ist sie in zwei Baudenkmälern an der Potsdamer Straße und Unter den Linden wieder zusammengeführt. Hier gibt es Lesesäle, die sich als Orte des Studierens und des Forschens tief ins Lebensbewusstsein von Studenten und Wissenschaftlern eingraben.
In ihrer Mitte finden sich die Zettelkästen mit Millionen Karteikarten, das wohlgeordnete Abbild menschlichen Wissens, die Dokumentation der deutschen Wissenschaftsgeschichte.
Seit dem Jahr 1500 wurden in diesen Zettelkästen die Daten aller Neuerscheinungen im deutschen Sprachraum mit ihrem Verfügungsort aufgeschrieben. 1995 hat der Bundestag die bis dahin geltende Pflicht für die Verleger aufgehoben, von jeder Neuerscheinung ein Exemplar der Stabi kostenlos zur Verfügung zu stellen.
■ Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.
Heute muss die Stabi alle Zukäufe aus ihrem jährlichen Etat stemmen. Wegen der Haushaltskürzungen kann sie die neuesten Ausgaben wissenschaftlicher Fachzeitschriften oft nicht beschaffen.
Bewacht und fortgeschrieben werden die Zettelkästen von den Bibliothekaren. Auf den Karteikarten finden sich Name, Autor und Erscheinungsdatum, aber auch andere Zeichen und Hinweise, die weiterführen und einordnen.
Die Bibliothekare haben mit den von ihnen händisch gepflegten Zettelkästen eine überschaubare Ordnung allen menschlichen Wissens geschaffen.
Digitalisierung und Karteikarten
Nun ist es aber so, dass die Digitalisierung auch vor dieser jahrhundertealten, analogen Institution nicht Halt macht. Achim Bonte, seit Herbst 2021 Generaldirektor der Stabi, will im Rahmen einer bevorstehenden Sanierung alle Zettelkästen mit Millionen von Karteikarten wegschmeißen. (Siehe dazu auch FAZ vom 18. August.)
Zwar gibt es schon seit Jahren neben den Zettelkästen einen elektronischen Katalog, der gegen Datenverluste, Hacker und Stromausfall als gesichert gilt, der aber die ergänzenden Hinweise auf den Karteikarten nicht übernommen hat.
In Gutachten, die die Mitarbeiter der Stabi erstellt haben, werden überschaubare Kosten und ausreichend Platz für den Erhalt der Zettelkästen auch im Rahmen der millionenschweren Sanierung nachgewiesen. Das hat Bonte freilich bisher ignoriert. Dabei könnten sich Zettelkasten und E-Katalog sinnvoll ergänzen.
Die Zettelkästen fördern wegen der möglichen Verknüpfung von Notizen und anderen Zeichen neue Ideen und Netzwerke für gelingendes, wissenschaftliches Arbeiten, während der E-Katalog die auf Erscheinungsdaten reduzierte Informationssammelstelle ist und bleibt.
Die Library of Congress in Washington, die größte Bibliothek der Welt, die Nationalbibliothek in Paris, die bayerische, die österreichische Staatsbibliothek und andere halten an den Zettelkästen neben ihren E-Katalogen fest. Hier wird nichts weggeschmissen.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?
Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?
Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.
In eine Krise der Bibliotheken?
Warum will die Stabi das nicht auch tun und warum schlägt diese deutsche Geschichtsvergessenheit keine Wellen? Sicher, es gibt wegen der aktuellen Kriege, der schwierigen, ökologischen Transformation, der demographischen Krise des Sozialstaates Probleme, die mehr Aufmerksamkeit verlangen.
Das Wegsehen ändert nichts daran, dass sich hier eine in der Wirkung der Bilderstürmerei vergleichbare Gleichgültigkeit gegenüber allem Denken Bahn bricht, das sich analoger Techniken bedient.
Wenn das so weitergeht, dann werden Bibliotheken, die heute noch Wissenstürme, Studien- und Kommunikationsorte sind, zu Bücheraufbewahrungshäusern.
Das wären aber nur Sekundarfolgen viel tiefgreifenderer Veränderungen in den Denkstrukturen der Gesellschaft. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche entzieht den Menschen mehr und mehr die Fähigkeiten, in eigener sinnlicher Erfahrung die Welt nachdenkend mitzugestalten.
Das gesamte öffentliche Leben, alle zwischenmenschlichen Beziehungen, das Lernen, Denken und Gestalten verschwinden in virtuellen Welten. Es wird nicht ernst genommen, dass Daten und Informationen in diesen virtuellen Welten Machtmittel und Herrschaftsinstrumente sind.
Einzug der Tech-Milliardäre
Die privaten Herrscher über die Daten zeigen sich immer unverfrorener als neue Fürsten einer digital-feudalen Weltordnung. Was als gewinnbringende, technische Innovation für den Zugang zu allem Welt- und Zukunftswissen begonnen hat, wird für die Mehrheit immer deutlicher zu einem Instrument der Unterdrückung ihrer zivilen Bedürfnisse und führt zu ihrer digital kontrollierten Einbindung in autoritär bestimmte politische Systeme.
Das mag apokalyptisch oder nostalgisch den untergehenden analogen Welten hinterhertrauernd klingen, hat aber einen harten Kern historischer Erfahrung. Freies Denken in einer ansonsten totalen Diktatur gibt es dann nur noch in Nischen.
Zum Beispiel bei den Zettelkästen in der Bibliothek, einem Netzwerk mit einander verbundener Informationen. Der Zettelkasten in der Stabi in Ostberlin war während der DDR-Herrschaft ein solcher Ort des nahezu ungestörten Übertretens der SED-Leseverbote.
Die Verweise auf die Weltliteratur, die Ausleihverbote auf den Karteikarten boten Hinweise darauf, sich das verbotene Wissen selbst zu erschließen. Die Zettelkästen waren ein Fenster ins Offene.
Mit der Vernichtung aller Zettelkästen würde dieser potentielle Freiraum für immer verschlossen. Daher muss man fragen, warum die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Kulturstaatsminister und der Verein der Freunde der Stabi, dessen Vorsitzender der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ist, Herrn Bonte bisher ohne jeden Widerspruch gewähren lassen.
Wer Zettelkästen wegschmeißt, wird irgendwann auch Bücher wegschmeißen, wer braucht sie, es gibt ja das E-Book.
Lesen, das lustvolle Umblättern der Seiten, der Geruch langsam älter werdender Bücher, die in ihnen lebendigen Welten ihrer Gedanken und Geschichten, werden in der digitalen Welt von Morgen nicht mehr gebraucht.
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