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Jugend erklärt den WeddingToys und Jokers

Arabischstämmige Teenager weihen Besucher in die geheimen Zeichensysteme der Jugendlichen ein. Näher dran an das unbekannte Berlin kommt man kaum.

Dort, wo Berlin überhaupt nichts zu bieten hat, rund um den U-Bahnhof Reinickendorfer Straße etwa, machen die 17-jährige Saphija Chehade, ihre ein Jahr ältere Freundin Nada Hamadi und deren 13 Jahre alte Schwester Kauthar eine Stadtführung. Sie zeigen, was auf der Skala der zeigbaren Dinge auf den letzten Plätzen rangiert: Eine Sparkasse in einem 70er-Jahre-Bau, Graffiti am Müllplatz eines Wohnhauses, abgefackelte Spielplatzbänke, das Schild der Kinderärztin an dem Haus, in dem sie ihre Praxis hat. Und sie zeigen auf Schering, das jetzt Bayer heißt, und wo ihre Verwandten einst arbeiteten.

Es wird ein Spaziergang ohne "aha" und "oho". Trotzdem sind die drei arabischstämmigen Mädchen stolz auf ihre Weddinger Heimat. Hier kennen sie sich aus. Sie wissen, wer von welchem Fenster aus täglich die Welt betrachtet. Sie erkennen die Jahreszeiten am Geruch der Panke, die vor ihrer Nase vorbeifließt. Und Vorübergehende identifizieren sie von weitem am Schritt.

Ausgangspunkt der Tour, die vom Verein "Kultur bewegt" mit den Mädchen ausgearbeitet wurde, ist die Sparkasse direkt am U-Bahnhof. Das Haus, in dem sich die Bank befindet, hat für die Teenager eine Geschichte, denn in der Silvesternacht 2005 wurde es von Jugendlichen in Brand gesteckt. Die jungen Frauen haben das miterlebt; sie kennen die Jungs, die es waren. Früher hingen sie mit ihnen auf der Straße rum. "Jetzt nicht mehr", versichert Saphija. Sie finden nicht gut, was "die" machten. "Es hätte jemand sterben können."

 

Von hier lässt sich die kleine Reisegruppe ein Stück die Chausseestraße, in die die Müllerstraße übergeht, bis zur Panke leiten. Rechts und links des einbetonierten Flüsschens sind Schranken. Die rechte ist Treffpunkt der jungen, die linke Treffpunkt der älteren Jugendlichen, erklärt Kauthar. "[ - H - ]" hat jemand mit Filzstift auf den Polder geritzt. Die vordere Klammer symbolisiert ein "C", die hintere ein "J". Soll heißen: "Chaussee-Hurrican-Jokers". Die Jugendlichen seien die "Jokers", erklärt die großgewachsene Saphija, die in ein paar Jahren Abitur machen will und hofft, später mal einen Job und eine Familie zu haben. Dann entrüsten sich die Mädchen darüber, dass Leute alles in die Panke werfen. "Einkaufswagen und so. Voll die Umweltverschmutzung", meint Nada, die eine Lehre als Verkäuferin in einer Konditorei macht. Dann erzählt sie, wie toll es im Sommer ist, wenn die Leute sich am Ufer treffen, zusammenhocken, Melonenkerne futtern. "Da sitzen wir und quatschen den ganzen Tag." Eine Frau kommt vorbei. "Hallo, Zeinab, wie gehts?", ruft Saphija.

Die Welt der jungen Frauen ist voller Codes. Wie um es zu demonstrieren, werden die zu einem "W" gespreizten Finger hochgehoben. "Ich bin aus dem Wedding" heißt das. Oder der betonierte Müllkasten vor dem Haus, in dem Saphija wohnt: Er ist das Pinbrett der Jugendlichen. Hier hinterlassen Verliebte ihre Nachrichten. Momentan scheint die Liebe grad vorbei: "Irgendwann spucke ich Dir in Deine dreckige Fresse" ist zu lesen. Angekokelte Holzpfähle beim Spielplatz hinterm Haus wiederum werden von den drei Mädchen als "Denkmal" bezeichnet. Dort haben Jugendliche einmal wild gecampt und Feuer gemacht. "Toys 65" hat jemand auf die Reste gesprayt. "Toys" sind die Kinder, nicht das Spielzeug. Saphija, Nada und Kauthar sind Expertinnen beim Entschlüsseln einer sonst verschlossenen Welt.

Seit Jahren experimentieren Pädagoginnen, vor allem in Kreuzberg, mit Stadtführungen von Jugendlichen. Gelingt es ihnen, die jungen Leute dafür zu begeistern, ist der Nutzen groß. Plötzlich nämlich setzen diese sich mit der Umgebung, in der sie leben, auseinander. "Im Idealfall identifizieren sie sich sogar damit", sagt Gabi Kienzl, die die Tour mit den Jugendlichen im Wedding ausarbeitete. Außerdem lernten sie, vor Leuten zu sprechen und auf Fragen einzugehen. Etwa auf die folgenden: Werdet ihr als Mädchen von den Jungs im Kiez respektiert? "Ja, klar", antwortet Saphia, die den Ton angibt. Wirst du respektiert, weil du einen älteren Bruder hast? "Auch." Würdest du genauso respektiert werden, wenn du keinen älteren Bruder hättest? "Ich denke schon. Ich habe Karate gemacht. Die kennen unsere Grenzen", antwortet die Wortführerin.

Und weiter geht es durch den Kiez. Die drei erzählen voll Stolz, was sie auf ihren Spielplätzen, in Hauseingängen und Treppenhäusern schon alles erlebt haben. Auf dem Spielplatz mussten sie mit ansehen, wie Bussarde Tauben jagten. "Das war doch schlimm für uns zu sehen, wie die Tauben gefressen wurden." Und in ihrem Haus wohnte einmal eine Frau, die ihren prügelnden Mann umgebracht hatte. "Wir haben vor ihrer Tür immer 'Mörderin' gerufen. Da hat sie uns verjagt." Und dann erzählen sie noch vom Obdachlosen, der in der mit Birken und Akazien überwucherten Stadtbrache hinterm Wohnblock - "unserem Dschungel" sagen die Mädchen - wohnte. Die Kinder ließen ihn gegen einen Obolus im Keller übernachten, bis die Eltern es mitkriegten und Alarm schlugen. So ist das Leben der Toys.

Das Leben als Joker indes spielt sich eher auf dem "Schiffsspielplatz" etwas weiter nördlich an der Panke ab. Mit erstaunlicher Akribie beschreiben die drei, dass dort alles von Jugendlichen kaputtgemacht wird. Die Papierkörbe, die Bänke, das Trampolin, das hier mal stand - alles wird angezündet. "Weil die Jugendlichen so unerzogen sind und nicht wissen, was sie mit ihrem Leben machen sollen", sagt Saphija und redet sich in Rage. "Die schwänzen die Schule oder kriegen keine Arbeit. Die sind so unerzogen. Die sagen: 'Ich krieg mein Geld, indem ich klaue.' "

Dann erzählt sie von einem Kumpel, der auf der anderen Seite der Panke eine Taxifahrerin überfallen wollte. "Früher wurde in Deutschland nicht so viel geklaut und kaputtgemacht. Früher gab es nicht so viele Ausländer." Zu denen wollen sie nicht gehören. "Wir sind zwar ein bisschen farbig, aber wir sind Deutsche."

Dass die Mädchen so klar Position gegen den Vandalismus beziehen, sei neu, sagt Gabi Kienzl. Überhaupt erfährt die Pädagogin vom Verein "Kultur bewegt" bei jeder Tour etwas anderes. Das liegt auch daran, dass sie Saphija und ihre Freundinnen aufforderte, eine Haltung zu dem einzunehmen, was sie erzählen. Seither kritisieren die jungen Stadtführerinnen die Zerstörungen. "Bei den ersten Touren haben sich die Mädchen noch selbst als Ausländerinnen bezeichnet. Deutsche sind sie heute zum ersten Mal", sagt Kienzl.

 

Die Stadtführerinnen ziehen weiter. Vorbei an Nadas und Kauthars Zuhause. "Dort oben, wo die vielen Pflanzen auf dem Balkon stehen, wohnen wir." Kauthar, die 13-Jährige, die mit Handtasche und dünnem Pullover, der sie nicht wärmt, unterwegs ist, zeigt nach oben. Der Vater zieht seine Tomaten und Zucchini auf der Terrasse. "Manchmal winkt er uns zu, wenn wir Führungen machen."

Von hier aus kommt man zu den Gerichtshöfen, wo viele Kunstschaffende und Handwerker ihre Ateliers haben. Die Mädchen finden vor allem die türkische Backwarenfabrik dort toll. Die Weddinger Keimzelle orientalischer Süßigkeiten liefert in die ganze Welt. Das zeigt aus Sicht der Teenager, dass Kulturgrenzen nicht sein müssen. Wer Baklava nicht kennt, ist - ganz klar - arm dran.

Die Tour endet am DRK-Jugendladen in der Neuen Hochstraße. Er ist zu. Trotzdem beschreiben Saphija, Nada und Kaudar in schillernden Farben, wie sie dort gerade ihr Weihnachtsfest vorbereiten. Mit Musik, Essen und Trinken und einem Basar. "Wir machen das ganz alleine." Sie müssen es machen für ihre "Juleika", die Jugendleiterkarte. "Wir feiern gern Weihnachten. Alle glauben an den Weihnachtsmann. Das wird ein total tolles Fest." Eine Frau, die sie kennen, läuft vorbei. "Salemaleikum", rufen die Mädchen. Und den Jungs im BMW, von denen sie unterwegs angemacht werden, werfen sie ein Peace-Zeichen zu.

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