piwik no script img

Archiv-Artikel

„Standards müssen eisenhart sein“

Normalerweise zeigt McKinsey-Chef Jürgen Kluge Unternehmen, was Effizienz ist. Nun überrascht er mit Vorschlägen für das deutsche Bildungssystem: mehr Geld für die Kleinsten, bessere Förderung der Schwachen – und die harte Hand nationaler Qualitätsstandards

Interview CHRISTIAN FÜLLER und JÖRN KABISCH

taz: Herr Kluge, was lernt man, wenn man sich vor einem Vortrag an der Humboldt-Universität noch mal frisch macht?

Jürgen Kluge: Man landet auf der Uni-Toilette, auf Humboldts Klo. Was ich da gesehen habe, entsprach nicht meinem Bild von der Ausbildungsstätte einer Elite, die den Namen Wilhelm von Humboldts trägt. Man verlässt den Ort mit Grausen.

Das gilt für viele Schulen und Kindergärten. Wenn das den Zustand deutscher Lernorte kennzeichnet, was braucht man dann zur Veränderung: Berater oder Bulldozer?

Man braucht jedenfalls nicht mehr Geld. Wir geben insgesamt ziemlich viel Geld für unser Bildungssystem aus. Pro Kopf deutlich mehr als in Ländern, die bei Pisa sehr viel besser abgeschnitten haben als wir.

Was machen wir falsch mit dem Geld?

Wir sollten es für Qualität ausgeben.

Ja klar, aber was heißt Qualität in der Schule?

Im Einzelfall kann das mit den Rahmenbedingungen zu tun haben, mit der Ausstattung der Schulen etwa. Wichtiger aber scheint es mir, Geld zu investieren in die Kindergärten, in eine bessere Ausbildung der Lehrer, ein anderes Unterrichtsskript, verbindliche Qualitätstandards – und Wettbewerb.

Andere Manager reden in diesen Tagen davon, wie lange ein Häuserkampf in Bagdad dauert. Warum leisten Sie sich den Luxus, ein Buch über Bildung zu schreiben?

Die Diskussion bei uns ist schon merkwürdig. Es geht um Krieg – oder ums Dosenpfand. Wieso reden wir nicht über unsere Zukunft? Wir haben eine rapide alternde Bevölkerung. In 30 Jahren wird eine Stadt von der Größe Berlins rund 100.000 Pflegefälle mit Alzheimer oder ähnlich schweren Krankheiten zu versorgen haben. Wer soll diese Menschen eigentlich in Würde pflegen?

Stimmt, das wird ein Problem. Aber was hat das mit Bildung zu tun?

Viel, denn die radikale Produktivitätssteigerung, die wir brauchen, damit künftig ein Arbeitender einen Rentner miternähren kann, die müssen wir aus geistigen Produkten erwirtschaften. Egal, ob es sich dabei um neue Software oder einen Kinofilm dreht, um Theaterstücke oder eine neue Ausbildung. Die Branchen der Wissensgesellschaft sind es, die für Wachstumsraten von drei, fünf oder gar zehn Prozent pro Jahr sorgen müssen. Das geht aber nur mit einer Mannschaft, einem Team, das exzellent ausgebildet ist.

Ist unser Bildungssystem fähig dazu?

Keine Spur. Unsere Pisa-Zeugnisse waren schlecht, sehr schlecht. Das Schulsysstem ist obendrein ungerecht. Und es bringt noch nicht mal Spaß. Oder kennen Sie Schüler, die einen Glücksrausch empfinden würden? Deshalb müssen wir uns einmischen. Jetzt, sofort. Das Problem ist nur: Selbst wenn wir heute die Zauberformel hätten, um unser Bildungssystem aus dem Stand auf Weltniveau zu katapultieren, müssten wir 20 Jahre auf den Erfolg warten. Solange dauert es, bis einer das System vom Kindergarten bis zur Uni durchlaufen hat.

Sie sind Unternehmensberater bei einer der weltweit angesehensten Consulting-Firmen. Wie lautet Ihre Zauberformel?

Moment, wir sind für Konzepte und nicht für Zaubereien zuständig. Es reizt natürlich, gerade bei einem so richtig schweren Fall, Lösungsansätze zu finden. Wir plädieren für simple Spielregeln, die alle Betroffenen gut verstehen können.

Dann machen Sie mal.

„Früh investieren statt spät reparieren“, heißt so eine Spielregel. Das bedeutet, wir sollten in die frühkindliche Bildung sehr viel mehr investieren als bisher.

McKinsey für Kindergärten. Klingt irgendwie gewöhnungsbedürftig.

Spotten Sie ruhig. Die ganz frühe Lernphase, das sagen uns die Hirnforscher, ist die, in der wir Win-Win-Situationen schaffen können. Bei den Zwei- bis Fünfjährigen können Sie aus dem Potenzial wirklich etwas machen. Und auch die Frauen profitieren davon. Weil sie, wenn es gute Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder gibt, nicht in die Entscheidung Kind oder Karriere gezwungen werden. Und es kommt obendrein der Volkswirtschaft zugute. Jeder ins frühe Lernen investierte Euro bringt zwei bis vier Euro volkswirtschaftlichen Nutzen.

Von guten Kindergärten redet heute beinahe jeder …

… und in Wahrheit wäre allein für „Früh investieren statt spät reparieren“ eine kleine Bildungsrevolution nötig – die Ressourcen innerhalb des Systems auf den Anfang zu schieben. Kinder wollen lernen. Sie sind hochtourige Lernmaschinen. Sie sind wie Schwämme, die alles aufsaugen, was sie an Eindrücken bekommen können.

Wo beobachten Sie den Mangel an Lern-Leidenschaft? Bei Ihren Berufseinsteigern?

Wir rekrutieren jedes Jahr 200 der besten jungen Absolventen und Absolventinnen in Deutschland. Da muss ich mir keine Sorgen machen, denn Spitzenleute finden auch bei einem schlechteren Bildungssystem ihren Weg. In den langen Diskussionen, die ich führe, seitdem wir uns bei McKinsey mit Bildung befassen, habe ich aber einen Lernprozess durchlaufen. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass wir etwas ganz Besonderes für die Schwachen tun müssen – weil wir sie sonst abhängen. Ich fürchte mich vor einem Modell, in dem es eine große Gruppe von Heloten, von geborenen Arbeitssklaven gibt, die keine Chance haben, an der Gesellschaft teilnehmen zu können.

Wann hat es bei Ihnen Klick gemacht?

Das Aha-Erlebnis war, als wir uns das typische Unterrichtsskript in Deutschland angeschaut haben, den Dialog zwischen Lehrer und Schülern. Der deutsche Lehrer führt in der Regel das Gespräch von vorn mit der Klasse in immer einfacher werdenden Fragen. Dabei geschieht, so sinnvoll dieser sich fragend entwickelnde Unterricht zunächst scheinen mag, etwas im Grunde Furchtbares: Man bremst den ab, der besonders gut ist, der immer zwei Sprünge nach vorne machen will. Der stört, weil man als Lehrer den Ablauf bis zum Ende der Stunde im Kopf hat. Und man hängt die ab, die schon die einfachen Fragen nicht verstehen.

Unser Unterricht orientiert sich also am Mittelmaß?

Am unteren Mittelmaß. Denn die Lehrer konzentrieren ihre Aufmerksamkeit notgedrungen auf die Schüler am schlechteren Ende der Verteilung – anstatt aus jedem nach seinen Fähigkeiten das Maximum rauszuholen. Nichts anderes hat uns Pisa vor Augen geführt.

Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Dass manche Gewissheiten, die wir im Kopf haben, nicht stimmen. Wenn Sie eine faire und gute Schule wollen, dann müssen sie tolerieren, dass es diese Normalverteilung von Talent, Interesse und IQ gibt. Und sie müssen jedem die Möglichkeit geben, sein Potenzial maximal auszunutzen. Es ist ja überhaupt kein Widerspruch, die Besten zu fördern und den Schwachen zu helfen.

Was kann man tun?

Die erfolgreichen Pisa-Länder zeigen uns, dass wir ein neues Unterrichtsskript, eine neue Philosophie des Lehrens brauchen. Wir haben nämlich sehr homogene Klassen – jedenfalls in der Theorie. Weil wir nach einem überkommenen Prinzip die Schüler sortieren: Wer angeblich nicht in die Klasse passt, den kann man aussortieren, bis runter zur Sonderschule. Es wäre besser, die Förderung künftig auf das Potenzial des einzelnen Kindes abzustellen – und nicht auf die vermeintlich homogene Klasse.

Klingt nach Gesamtschule. Das Wort kommt in Ihrem Buch aber gar nicht vor.

Ich habe das Wort als Konzept bewusst vermieden. Sie lösen damit nur Pawlow’sche Reflexe aus. Glühende Verfechter gegen glühende Ablehner – und die Wirklichkeit spielt keine Rolle mehr. Was wir tun sollten, ist beides: Die Lehrer nicht mehr nur auszubilden, dieses Frage-und-Antwort-Spiel mit den Schülern zu spielen. Und uns ruhig trauen, die Schüler erst später als nach der vierten Klasse in verschiedene Schulformen zu stecken.

Wäre es nicht besser, radikal das Chaos von zwölf Schulformen in Deutschland – von der Sonderschule bis zum Spezialgymnasium – zu vereinfachen?

Das entspricht einer stark differenzierten Gesellschaft nicht. Unser Alternative heißt: Lasst uns die Vielfalt akzeptieren – und sogar fördern. Jede Schule soll ihr eigenes Profil entwickeln. Warum soll es nicht Schulen geben, die stärker für eine solide physikalisch-mathematische Ausbildung, und Schulen, die für etwas anderes stehen. Eltern und Kinder können aussuchen, was sie wollen.

Ist das wieder eine Ihrer Spielregeln?

Ja. Es gibt Wettbewerber, und die Eltern dürfen sich die Schule aussuchen, die sie gut finden. Dazu gehört eine zweite Regel: Wir brauchen rigide Qualitätsstandards. Wenn man den Schulen die Freiheit gewährt, sich ihre Lehrer auszusuchen, ihre Budgets selbst zu verwalten und sich inhaltlich zu differenzieren, dann müss man auf der anderen Seite sagen: Es muss eisenharte Standards geben.

Was soll eisenhart heißen?

Wenn eine Schule den Standard nicht erfüllt, müssen wir uns auch trauen, zu sagen: „Sorry, das war’s wohl nicht, jetzt müssen wir euch zumachen.“ Das ist der Preis von Freiheit und Autonomie. Natürlich erst, nachdem versucht worden ist, mit dem Kollegium die Missstände zu beseitigen.

Die Kultusminister diskutieren gerade über Bildungsstandards. Es sieht aus, als kämen da keine nationalen Standards heraus, sondern für jede Schulform ein eigener Maßstab.

Das kenne ich aus der Industrie. Da gibt es Unternehmen, die reden sich ihr Marktsegment schön. Die sagen, bei „Haushaltsreinigern mit rotem Etikett“ haben wir beinahe 100 Prozent Marktanteil. Nur ist der nicht real, weil der Konkurrent eben ein blaues Etikett hat. Weltweit gäbe uns doch niemand einen müden Euro dafür, wenn wir uns jetzt die Pisa-Standards zurechtbiegen würden. Bleiben wir doch lieber bei dem, was die OECD mit Pisa als internationalen Maßstab gesetzt hat.

Auch der Streit um die vier Milliarden Euro für Ganztagsschulen hat sich verschärft. Manche Länder wollen sie nicht.

Die Diskussion darüber, wie dieses Geschenk zu verwenden sei, trägt absurde Züge. Wir stehen vor einem Herkules-Projekt – und die Politik streitet sich um Zuständigkeiten.

Ihre neuen Spielregeln würden vielen Zockern eben das Spiel verderben. Vielleicht sollte man eine Hartz-Kommission für die Bildung einrichten?

Kein Hartz und kein Rürup kann sich der parteipolitischen Debatte am Ende entziehen. Wir brauchen eine tief greifende gesellschaftliche Diskussion über Bildung. Unsere neueste Online-Umfrage „Perspektive Deutschland“ zeigt: Die Menschen wollen zwar bessere Schulen und Kindergärten – aber sie greifen nur zum Naheliegenden: Mehr Geld zum Beispiel. Oder die Sanierung von Räumen.

Was Sie fordern, ist eine Art nationaler Pakt für gute Schulen. Dafür muss ein Gesicht stehen. Wer sollte das sein?

Am liebsten wäre mir ein aufgeklärter politischer Macher – der gleichzeitig Nobelpreisträger ist. Und der eine Erfolgsgeschichte hat, Veränderungen hinzukriegen. Bisher ist mir eigentlich nur einer eingefallen – Humboldt.

Herr Kluge, der Mann ist seit über 150 Jahren tot.

Ja, aber er löste damals eine wahre Bildungsrevolution aus. Nach nur 17 Monaten „temporären Engagements“, wie er es nannte. Es gibt kaum ein Reformprogramm in der Geschichte, das so viel verändert hat wie seines.