: Wer arbeitet, bleibt arm
Rot-Grün geht ein gewagtes Experiment ein: Bei den Arbeitslosen wird gekürzt und dafür Vollbeschäftigung versprochen. Der Nachteil: Die meisten bekämen nur Niedriglohn
„Wir dürfen nicht akzeptieren, dass unsere Kinder Vollbeschäftigung nur noch aus Fernsehdokumentationen, Geschichtsbüchern oder – das schmerzt mich am meisten – aus Reiseberichten aus dem Ausland kennen.“
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement vor der SPD-Fraktion am 8. 4. 2003
Das Versprechen der Regierung ist ernst gemeint. Jeder Arbeitslose soll eine Chance erhalten. Vollbeschäftigung ist möglich, lautet die Botschaft. Nur deswegen kann Wirtschaftsminister Wolfgang Clement überzeugt sein, dass es gerecht ist, bei ABM und Weiterbildung zu kürzen sowie Arbeitslosengeld und -hilfe zu reduzieren. Da spart man nicht bei den Ärmsten – nein, man tut ihnen etwas Gutes, indem man „die strukturelle Wachstumsschwäche behebt“ und „die verhärtete Arbeitslosigkeit zurückdrängt“.
Diese Hoffnung auf Vollbeschäftigung wirkt zunächst absurd. So geht auch Clement davon aus, dass momentan „sechs bis sieben Millionen“ eine Arbeit suchen. Aber diese Statistik beirrt nicht. Die meisten Politiker und Bürger nehmen trotzdem an, dass die Arbeitslosenzahlen irgendwie ein Irrtum seien und dass eigentlich jeder einen Job finden müsste.
Dieses erstaunliche Phänomen wird mit zwei Argumenten begründet, die außerordentlich beliebt sind: „Andere Länder haben es auch geschafft“, und „viele Arbeitslose arbeiten, aber schwarz“. Beide Aussagen sind nicht falsch, sonst wären sie längst aus der Debatte verschwunden. Aber obwohl die Beobachtungen zutreffen, folgt daraus nicht zwingend, dass wir demnächst im Jobparadies leben.
Zunächst zum Vergleich mit dem Ausland, auch „Benchmarking“ genannt. Da fällt auf, dass vor allem kleine Länder ihre Arbeitslosigkeit bekämpfen konnten: Irland, die Niederlande, Dänemark, Schweden oder Norwegen hatten laut OECD im Jahr 2002 durchschnittliche Arbeitslosenquoten zwischen 2,4 und 4,9 Prozent. Dabei wurden durchaus unterschiedliche Strategien gewählt. Während etwa die Niederlande vor allem auf Teilzeit und Zeitarbeit setzten, forcierten die Dänen ihre staatlichen Maßnahmen.
Gleichzeitig wurden jedoch auch die Zahlen geschönt. Nur ein Beispiel: In den Niederlanden gilt etwa 1 Million Menschen als „erwerbsunfähig“. Auf die Deutschen umgerechnet würde dies bedeuten, dass mindestens 3,7 Millionen in die krankheitsbedingte Rente wechseln. Tatsächlich sind es hier jedoch nur knapp 2 Millionen. Mit dem Trick der Niederländer wären wir also fast ein Drittel unserer offiziellen Arbeitslosen los. Auch in Dänemark verflüchtigten sich viele Arbeitslose aus der Statistik: Sie sind im Vorruhestand, im Vorvorruhestand, im Erziehungsurlaub oder werden auf subventionierten Jobs „aktiviert“.
Zudem ist völlig unklar, ob große Volkswirtschaften einfach imitieren können, was kleinen geholfen hat. Jedenfalls ist bedenkenswert, dass alle großen EU-Staaten an hohen Arbeitslosenquoten laborieren: Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien verzeichneten 2002 zwischen 8,7 und 11,4 Prozent.
Es gibt nur einen großen Industriestaat, der sich halbwegs der Vollbeschäftigung nähert: Großbritannien mit einer Arbeitslosenquote von 5 Prozent. Doch ist umstritten, wie viel davon der Arbeitsmarktpolitik zu verdanken ist. Die Briten erleben ein Sonderphänomen: Ihr Immobilienmarkt ist überhitzt. Selbst Garagen im ländlichen Devon können 200.000 Euro kosten. Viele Briten fühlen sich plötzlich reicher, weil der Wert ihres „Castle“ steigt. Also wird freudig konsumiert, die Wirtschaft wächst. Zudem kann Großbritannien eine autonome Währungs- und Zinspolitik betreiben, während wir von den Entscheidungen der EZB abhängen, die nur unvollständig berücksichtigt, dass sich Deutschland einer Deflation nähert.
„Benchmarking“ ist eine interessante Idee, doch bleibt es ein Experiment. Trotzdem kann man sich ruhig für Versuch und Irrtum entscheiden – aber es ist bedenklich, wenn ein ganzes Volk experimentiert und nur eine Bevölkerungsgruppe die Risiken tragen soll. Denn bei den Arbeitslosen wird jetzt gekürzt in der vagen Hoffnung, dass sich irgendwann eine Stelle für sie findet. Und wenn nicht?
Spätestens jetzt taucht als zweites Argument auf, dass die Arbeitslosen eigentlich gar nicht arbeitslos seien, weil sie alle schwarzarbeiten würden. Eines stimmt: Schwarzarbeit ist in Deutschland weit verbreitet. Es ist sogar eine Boombranche. 1975 lag der Anteil der Schwarzarbeit bei 5,75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, für 2002 schätzt man ihn auf 16,49 Prozent. Das sind ungefähr 350 Milliarden Euro, die etwa 9 Millionen Schwarzarbeiter erwirtschaften. Das legt der Neidfantasie natürlich nahe, dass sich viele Arbeitslose in der sozialen Sofalandschaft ausruhen und illegal dazuverdienen. Doch die Stichproben der Arbeitsämter ergeben regelmäßig, dass nur ungefähr ein Drittel der ertappten Schwarzarbeiter nebenher Sozialhilfe oder Arbeitslosenunterstützung beziehen. Der Rest hat einen normalen Job, der meist nicht gut bezahlt ist. Also wird in der Freizeit weitergeschuftet. Das ist dann eben die Friseurin, die zu Hause auch „Freunde“ schneidet; das ist die Kassiererin, die am Wochenende noch putzen geht. Viele dieser Jobs gäbe es einfach nicht, wenn sie regulär versteuert und versichert werden müssten. Dann würde sie niemand bezahlen wollen.
Die Bundesregierung hat diese Realitäten anerkannt, indem sie die Minijob-Regelung so verändert hat, dass man als Normalbeschäftigter zusätzlich für 400 Euro monatlich steuerfrei jobben darf, der Arbeitgeber muss pauschal 25 Prozent an Sozialbeiträgen und Steuern abführen. Ähnliches soll auch für Langzeitarbeitslose gelten, die künftig zum Arbeitslosengeld II hinzuverdienen dürfen. Wie viel sie von ihrem Minijob ans Arbeitsamt abgeben müssen, ist noch ungeklärt.
Also alles bestens? Nein. Denn wenn die Schätzungen zutreffen, dann reicht die Schwarzarbeit bei weitem nicht aus, um alle Arbeitslosen zu versorgen. Vor allem aber ist es zynisch, es als eine „Integration in den ersten Arbeitsmarkt“ zu definieren, wenn man nur die Schwarzarbeit legalisiert und den „Niedriglohnsektor ausbaut“. Denn diese schlecht bezahlten Jobs auf dem Bau, in der Gastronomie und im Haushalt bieten keinerlei Perspektive, sondern nur bescheidenes Überleben.
Doch das fällt dann nicht mehr so deutlich auf. Während ein offizieller Arbeitsloser eine Mahnung an die Gesellschaft ist, ein statistischer Vorwurf, hat sich ein „working poor“ nicht zu beklagen. Er hat doch einen Job. Dass er dabei kaum etwas verdient, dafür kann dann niemand etwas. Mehr als einen Niedriglohn ist seine Arbeit eben nicht wert.
Vollbeschäftigung, so wird suggeriert, sei ein Versprechen an die Arbeitslosen. Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es ist auch die Hoffnung der Begüterten, dass nicht bemerkt wird, wie ungerecht Wohlstand und Chancen verteilt sind. ULRIKE HERRMANN