: „Das ist ein Völkermord!“
Der argentinische Regisseur Fernando Solanas ist der Träger des diesjährigen goldenen Ehrenbären. Ein Gespräch über seinen Dokumentarfilm „Geschichte einer Plünderung“, die Verbrechen neoliberaler Wirtschaftspolitik und über die Schwierigkeiten seines Konzepts des didaktischen Kinos
INTERVIEW CRISTINA NORD
taz: Herr Solanas, in „Geschichte einer Plünderung“ benutzen Sie den Begriff des „sozialen Genozids“, um zu beschreiben, welche Folgen Strukturanpassungspläne und Sparmaßnahmen für die argentinische Bevölkerung haben. Das ist ein harter, polemischer Begriff. Warum haben Sie ihn gewählt?
Fernando Solanas: Von einem Genozid spricht man normalerweise nur dann, wenn es um offene Gewalt geht, um Kriegssituationen oder um terroristische Akte. Die These meines Films hingegen ist, dass man Millionen von Menschen töten kann, ohne Waffen einzusetzen.
Wie?
Indem man ihnen die Arbeit, die Sozialversicherung, die medizinische Versorgung und die Ausbildung wegnimmt. Die Erfahrung in Argentinien wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen die entsprechenden neoliberalen Wirtschafts- und Strukturanpassungspläne durchgesetzt wurden, zeigt: Diese Pläne verschulden mehr Tote durch Unterernährung und durch unter normalen Umständen heilbare Krankheiten als der Falklandkrieg und der Terrorismus des Staates. 30.000 Menschen sterben daran pro Jahr, das ist ein Völkermord! Ein alltäglicher, unsichtbarer Völkermord! Die Urheber dieser Wirtschaftspläne sind Kriminelle, sie dürfen nicht straffrei ausgehen.
In Argentinien kam es angesichts dieser Zustände im Dezember 2001 zu einer Explosion des Protestes. „Geschichte einer Plünderung“ zeigt viele Bilder von Demonstrationen und Straßenschlachten. Einmal skandieren die Demonstranten eine alte Parole: „El pueblo unido jamás será vencido“ – „Das vereinte Volk wird nie besiegt“. Glauben Sie denn, dass das Volk noch so etwas wie ein historisches Subjekt ist, in der Lage, den Lauf der Dinge zu ändern?
Es fing damals jedenfalls an, in den Lauf der Dinge einzugreifen. Die spontane Protestwelle führte zum Rücktritt einer Regierung, die zwar mit 55 Prozent der Stimmen gewählt worden war, deren Popularität in den zwei Jahren ihrer Antszeit jedoch auf 20 Prozent gesunken war. Diese Regierung wurde vom Volk zu Fall gebracht. Damit begann eine neue historische Etappe.
Im Dezember 2001 entstand auch ein neues, enorm politisiertes Kino: das cine piquetero, benannt nach den Arbeitslosen, die ihrem Protest mit Straßenblockaden Ausdruck gaben. Wie verhalten sich Ihre Bilder zu denen des cine piquetero?
In manchen Sequenzen sind es die identischen Bilder, vor allem wenn es um den Aufstand im Dezember 2001 geht. Aber das cine piquetero ist ein Kino der Dringlichkeit, des politischen Kampfes, ein unmittelbares Kino. „Geschichte einer Plünderung“ hingegen ist ein Essay, Reflexionskino; der Film hat nichts Unmittelbares. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um ihn fertig zu stellen.
Trotzdem werden die Bilder von den Demonstrationen auf sehr ähnliche Weise präsentiert.
Ja, es sind eben Archivaufnahmen. 30 Minuten dieses Films stammen nicht von mir, der historische Abriss zum Beispiel kommt aus dem Archiv; die restlichen 90 Minuten habe ich selbst gedreht, mit einer Kamera, die in die Wirklichkeit eindringt, die sich durch das Land bewegt, die die Szenarien der Macht und der Misere erforscht.
Könnten Sie genauer erklären, worin die Reflexionsarbeit besteht? Wodurch sich „Geschichte einer Plünderung“ von der Unmittelbarkeit des cine piquetero abhebt?
Das müssen Sie selbst herausfinden! Ich bin kein Filmkritiker; ich habe vor 35 Jahren ein Filmessay gedreht …
„Die Stunde der Hochöfen“
… und 35 Jahre später greife ich diese Erfahrung wieder auf. Es geht darum, eine große Zusammenschau zu entwickeln und darin eine große Menge an Information unterzubringen. Ich habe deswegen mit der Soziologin Alcira Argumedo zusammengearbeitet, außerdem mit vielen Fachleuten, die ihre Ansichten zu einem bestimmten Thema äußern. Ich brauchte ein ganzes Jahr, um den Überblick herzustellen. Nach dem Drehen habe ich den Film mehrere Male geschrieben und mehrere Male geschnitten. Warum? Weil es so schwer war, diesen Film zu erfinden. Die Bilder allein enthalten nicht die Information; es geht also darum, die Bilder in ihrem jeweiligen Kontext zu verorten.
Wie kam es denn zum Beispiel dazu, den Film in zehn Kapitel einzuteilen?
Um Ordnung zu schaffen und Klarheit zu gewinnen. Das didaktische System des Films sollte sich auf eine möglichst leichte Art vermitteln.
Entspricht es Ihrer Absicht, didaktisches Kino zu machen?
Aber natürlich! Wie soll man denn denen, die zu Beginn der Neunziger fünf Jahre alt waren und die heute um die zwanzig sind, erklären, was passiert ist? Meine Aufgabe besteht darin, gegen das Vergessen anzuarbeiten und dabei eine pädagogische Leistung zu erbringen, so wie ein Buch das tun würde. Das Pädagogische erhält im emotionalen Fluss des Films ein Gegengewicht, in der Lebendigkeit und im Leiden des argentinischen Volks.
Wenn Sie dieses Volk in „Geschichte einer Plünderung“ zeigen, dann geschieht das oft so, dass die Bilder zwar rühren, aber keinen Denkprozess freisetzen. Ich meine vor allem die Bilder von den hungernden Kindern oder die von der älteren Slumbewohnerin, die klagt, dass es ihr an allem fehle …
Die Rolle dieser Frau besteht darin, ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, nicht darin, ihre Verzweiflung zu erklären.
Sicher, aber wie steht es dann um das historische Subjekt, wenn Sie die Leute vor allem in ihrer Misere zeigen, als Nichtsubjekte – beziehungsweise in dem anderen Sinne des Wortes: als Unterworfene?
Es stimmt ja nicht, was Sie sagen! Sie vergessen die beiden Ärzte, das sind doch Akteure. Sie leiden, weil sie die vielen Toten bestatten, und sie geben zugleich wichtige Erklärungen; Sie vergessen außerdem die beiden Lehrer, die von der Situation an den Schulen berichten; Sie vergessen den Mann, der erklärt, wie die Politiker nach einer Überschwemmung die Hilfsgelder einbehalten haben, ohne dass je etwas wiederaufgebaut worden wäre.
Oft fährt die Kamera durch leere Banken oder die leere Casa Rosada, den Regierungssitz. Warum?
Das sind die Räume der Macht, jene verborgene Welt, in der die Entscheidungen getroffen werden. Wenn diese Räume leer sind, können sie von der Vorstellungskraft der Zuschauer bevölkert werden; sie laden zum Denken ein.
Die Bilder der Kinder verleiten eher zum Mitfühlen als zum Denken.
Das ist richtig, denn das eine hängt eng mit dem anderen zusammen. Wenn ich einen wissenschaftlichen Text lese und darin überzeugende Ideen gut niedergeschrieben sind, setzt das Gefühle in mir frei. Umgekehrt bringt mich ein Gedicht oder ein emotional aufgeladenes Bild zum Nachdenken. Darin besteht eben das rätselhafte Gleichgewicht eines Werkes: Manchmal erklärt es, manchmal drückt es etwas aus.
Hinweis: Seit mehr als dreißig Jahren setzt sich FERNANDO SOLANAS mit der politischen Situation seines Heimatlandes Argentinien auseinander. Mit bitteren Folgen: Solanas verbringt mehrere Jahre im Exil in Paris und überlebt nur knapp ein Attentat.