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Archiv-Artikel

Der nächste graue Tag kommt bestimmt

Der Frühling funktioniert manchmal so ähnlich wie Ecstasy, manchmal wie Theater: Ein paar Beobachtungen aus jahreszeitlich gegebenem Anlass

Wenn man Frühling googlet, bekommt man viele Ergebnisse: Die Naturfreundejugend hat die Website erlebterfruehling.de, Mitglieder des Europäischen Parlaments besuchen im Rahmen des Projekts „Europäischer Frühling“ eine Schule, es gibt diverse Frühlingsgrußkarten, und Markus Brügge bearbeitete für den Spiegel das beliebte Praktikantenthema „Flirten im Frühling“.

Er entdeckte dabei „das Geheimnis, das uns alljährlich wieder in den süßen Taumel fallen lässt“. Also: „Frühling! Süße, wohl bekannte Düfte – Serotonin liegt in der Luft.“ Das frühlingshafte Mehr an Licht und Sonne führt also zur Ausschüttung der körpereigenen Droge Serotonin. Serotonin war vor allem in Sachen Ecstasy durch die Medien gegangen. Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass die Einnahme von Ecstasy zur Ausschüttung der körpereigenen Glücksdroge Serotonin führt. Schön für den beteiligten Körper.

Ungut nur, dass die Serotoninspeicher nach der körperinternen Serotoninüberschwemmung leer sind. Deshalb verfallen Ecstasy-User so gern vom Hop ins Flop. Der Frühling funktioniert also so ähnlich wie Ecstasy, und man sollte Acht geben, wie viel Licht man sich zumuten kann; der nächste graue Tag steht schon vor der Tür, die Serotoninspeicher sind dann leer und niemand will’s gewesen sein.

Die Gefangenen im Big-Brother-Haus hatten ihre Hormone schon schnell verschüttet und mussten nun 300 Papierblumen herstellen. Überhaupt gemein, dass der Körper an schönen Tagen, an denen man ja eh guter Dinge ist, Glückshormone ausschüttet, während die Produktion an grauen Tagen daniederliegt. Letztlich ist man ja doch nur ein lichtgieriges Gemüse.

Egal. Nur die Boulevardzeitungen halten sich in Sachen Frühling bislang noch zurück und beschäftigen sich in Berlin immer noch mit einem Babyschänder: Frühlingsbusen und -pos mögen schick sein, doch bei 15 Grad reicht’s einfach noch nicht für die erste Seite.

Einerseits begegnet man dem so genannten Frühling noch etwas misstrauisch – es ist ja nicht wirklich warm. Es fehlt da – zumindest in Berlin – noch ein ganz kleines Stückchen. In der Nacht braucht man sogar noch Handschuhe beim Fahrradfahren. Andererseits ist es ja wirklich ganz schön, wenn morgens schon die Sonne reflektiert durch eine Fensterscheibe des Hauses auf der anderen Straßenseite ins Zimmer scheint und die Wände entlangwandert. In der Großstadt kriegt man vielleicht den Naturkram nicht so mit, dafür umso mehr von den veränderten Lichtverhältnissen, wenn man in einer engen Straße wohnt. Beim Spazierengehen in Kreuzberg weht Haschrauch vorbei, denn die Leute hier sind alle haschsüchtig bzw. trinken in Gruppen in der Sonne, vielleicht um die allzu lebendigen Lebensgeister wieder etwas zu dämmen.

Die Knospen an den Bäumen wirken obszön. Auf einer Brücke am Kanal spielt eine Frau Harfe. Sie ist umgeben von „Statisten im Theater des Frühlings“ (Bruno Schulz), die ihre Gesichter mit geschlossenen Augen ins Licht halten. Beim klischeelastigen Milchkaffee überlegt man sich, ob es Glück bringt, dass man eben in Hundescheiße getreten ist. Einem Haufen, in den jemand eine kleine Deutschlandfahne gesteckt hat, kann man grad noch ausweichen. Würden alle Leute Deutschlandfähnchen in Hundehaufen stecken, träten nicht so viele Leute da rein.

Manche verlieben sich, andere trennen sich im Frühling. Beides scheint logisch. Ein alter Freund, der Busfahrer ist, erzählte von einem gemeinsamen Bekannten, der inzwischen Manager ist und gerade von seiner Frau verlassen wurde. Die Frau, eine Ostlerin, sei jahrelang den Chippendales nachgereist. Er hätte sie dabei auch aus Liebe begleitet. Und die Chippendales waren dann wohl auch der Grund ihrer Trennung gewesen. Aber viel schöner als der Frühling war eigentlich der erste Sonnentag im Winter.

DETLEF KUHLBRODT