: Im Büchergebirge
In einer feuchten Merseburger Turnhalle gewährt Peter Sodann einer viertel Million DDR-Büchern Asyl, die 1989 über Nacht niemand mehr lesen wollte. Doch das abgeschobene literarische Gedächtnis der Ostdeutschen zerfällt
Der Sündenfall: Gleich nach dem Ende der DDR landeten 3 Millionen druckfrische Bücher auf dem Müll. Die Leipziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesellschaft, zentraler DDR-Bücherauslieferer, hatte sie auf die Halde gekippt, darunter Klassiker ebenso wie Bildbände, Lyrik oder Märchenbücher. Nicht nur der Großhandel, auch Privatleute und Bibliotheken trennten sich in dieser Zeit von den gedruckten Hinterlassenschaften der DDR. Die Rede ist von weiteren 80 Millionen Büchern.
Die Initiative: Peter Sodann, damals noch Intendant in Halle, begann 1990, alles zu sammeln, was zwischen dem Kriegsende am 8. Mai 1945 und dem 3. Oktober 1990 in der sowjetisch besetzten Zone, später in der DDR erschienen war. 50.000 Bände umfasste die Sammlung, die er in seinem Theater unterbrachte. Als 2005 Sodanns Intendantenvertrag nicht verlängert wurde, gründete er mit 17 Interessierten in Merseburg den Verein zur Förderung, Erhaltung und Erweiterung einer Sammlung von 1945–1990 im Osten Deutschlands erschienener Literatur (Peter-Sodann-Bibliothek) e. V. Dessen Ziel ist es, eine Präsenzbibliothek aufzubauen.
Die Situation: Der Verein bekam von der Stadt Merseburg einen ehemaligen Kindergarten und eine Turnhalle zur Verfügung gestellt. In der Kita werden die gespendeten Bücher gesichtet, verschlagwortet und katalogisiert. Anschließend werden sie in Kisten verpackt und in einer nahe gelegenen Turnhalle eingelagert. Die Bedingungen für die 250.000 Bücher sind denkbar schlecht, in der Halle herrschen eisige Kälte und 96 Prozent Luftfeuchtigkeit. Noch einen Winter dort würde die DDR-Bibliothek nicht überstehen. AM
Von Anja MaierHeute morgen war es wieder so weit. Bruno wollte nicht, jedenfalls nicht da lang, wohin Peter Sodann wollte. Der Rauhaardackel des Sachsen hatte partout keine Lust, die Straße zur Post zu überqueren. Wer weiß schon, was in so einem Hund vor sich geht, jedenfalls stemmte er sich energisch mit seinen kurzen Beinen gegen die Leine. „Na gut, dann machen wir das anders“, sagte Peter Sodann, nahm Bruno auf den Arm und trug ihn auf die andere Seite.
Die Bruno-Episode ist typisch für Sodann. Wenn etwas nicht so funktioniert, wie er sich das vorstellt, diskutiert er nicht lange. Er denkt sich eine andere Lösung aus, Hauptsache, das gewünschte Ergebnis wird erzielt.
So in etwa muss man sich wohl auch die Sache mit der DDR-Bibliothek vorstellen. Sie begann 1990. Peter Sodann war noch Intendant in Halle, ein Prinzipal mit Hausmacht, als ein Mädchen zu ihm ins Theater kam. „Schönen Gruß von meiner Mutter“, rief sie, „die Bücher werden weggeholt.“ Sodann wusste, was los war. Gleich um die Ecke von seinem neuen Theater hatte die Treuhand das alte Gewerkschaftshaus verscherbelt, nun wurde die riesige Bibliothek entsorgt, um Baufreiheit zu schaffen. „Ich bin gleich hin“, erzählt Peter Sodann, „und sah Männer, die Bücher auf Lkws schmissen. Die wollten sie zur Müllkippe Lochau bringen. Da habe ich gesagt: Ihr schmeißt mir ja mein Leben weg. Da haben die gelacht.“
Das war neu für ihn. Der damals 54-Jährige war ein angesehener Bürger dieser Stadt, ein Kulturmensch, dem es nicht in den Kopf wollte, dass Zeiten angebrochen waren, in denen Literatur verklappt und darüber auch noch gelacht wird. „So was macht man einfach nicht“, sagt er noch heute. Wütend fuhr er den Männern hinterher, stellte sich mit seinem Auto quer. Aber es nützte nichts, am Ende landete die Bibliothek auf dem Müll. „Von da an habe ich Bücher gesammelt“, sagt Sodann.
Er nahm alles, was im Osten zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 3. Oktober 1990 erschienen war. Belletristik, die marxistischen Klassiker, Märchenbücher, Atlanten. Mitarbeiter von ihm fuhren mit Lieferwagen über Land und holten das scheinbar Überflüssige ab, er, der Intendant, räumte den Büchern in seinem Theater einen Bibliotheksraum ein. „Junge Leute“, begründet Sodann sein Tun, „wissen nichts mehr über die DDR. Das wäre ja auch nicht weiter schlimm, aber von Marx und den anderen sollten sie doch etwas wissen.“ 15 Jahre lang standen die Bücher bei ihm. Als er 2005 als Intendant unsanft abserviert wurde, musste er die Bibliothek räumen. Sodann diskutierte nicht lange. Er suchte und fand – wie stets – eine andere Lösung.
In Merseburg, der dreißig Kilometer entfernten Domstadt, fand er mit seinen Büchern Asyl, 50.000 waren es damals. Es musste was getan werden. Mit anderen gründete er einen Förderverein, bekam von der Kommune eine ausgemusterte Kita als Büro zur Verfügung gestellt und eine eiskalte Schulsporthalle als Lager. Der Name Peter Sodann hat Gewicht. Eine viertel Million DDR-Bücher haben die ABM-Leute bis jetzt katalogisiert. Alles, auch Propaganda. „Wir sammeln Schrott und Gutes“, erklärt Peter Sodann, „die Leute sollen selber rausfinden, was damals war, wer gelogen hat, wer nicht.“
Man muss weder Germanistik studiert haben noch von Berufs wegen mit Sprache und Kultur befasst sein, um sich darüber zu empören, wie nach der Wende mit dem literarischen Nachlass der DDR umgesprungen wurde. Noch im Wendejahr landeten aus den Lagerhallen der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesellschaft, der ostdeutschen Vertriebszentrale, tonnenweise verlagsneue Bücher auf Mülldeponien. Von drei Millionen Bänden ist die Rede. Später wurden von 16.000 Bibliotheken 10.000 geschlossen, weitere 80 Millionen Bände wurden verklappt. Die alten Bestände mussten weg, die neue Zeit versprach Aufregenderes, Ungelesenes, bislang Unterdrücktes: John Irving, George Orwell, Philip Roth. Günter Grass, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn. Und ja, endlich auch alles von Stefan Heym, Volker Braun oder Heiner Müller, den „eigenen“ Autoren, die nicht in der DDR verlegt werden durften.
Die geistige Gier war verständlich. Aber ein Fehler, wie sich noch zeigen sollte. Die, die damals literarische Flurbereinigung betrieben, unterschätzten einerseits das Eigene, Vergangene. Und sie überschätzten das Fremde, Künftige. Der Glaube an die in wirklich jeder Hinsicht vorhandene Überlegenheit des Westens war unfassbar groß, nahezu kindlich. Weg mit dem Plunder!
„Gucken Sie mal!“, ruft Frau Schaarschmidt in weichem Sächsisch, sie hält triumphierend ein Paperback in die Höhe, „,Pflanzen helfen heilen‘ – ein dolles Buch, da musste man sich in der DDR drauf anmelden.“ Frau Schaarschmidt sitzt an ihrem Arbeitstisch in der Peter-Sodann-Bibliothek. Die Merseburgerin hat hier eine ABM-Stelle, sie und 18 weitere Frauen begutachten und sortieren gespendete Bücher. „Was für schöne Sachen!“, freut sie sich. Jeden Tag kommen neue Spenden in der Goethestraße 5 an. Der Postbote schleppt Pakete an. Viele Leute klingeln einfach an der Tür des ehemaligen Kindergartens und bringen eine volle Tasche. Manche fahren mit dem Auto vor, den Kofferraum voller Bücher. Es reißt einfach nicht ab. Zwanzig Jahre nach der Wende türmt sich der Nachlass des Leselandes, wie sich die DDR gern nannte, noch immer auf wie ein Gebirge. Hier, in der Peter-Sodann-Bibliothek, hoffen die Erblasser auf eine warme Ecke für ihre Bücher. Es ist ihre Vergangenheit, die sie den Leuten von der DDR-Bibliothek anvertrauen.
Das ist die Hoffnung. Die Wirklichkeit aber sieht ganz anders aus. Die Turnhalle in der Merseburger Albrecht-Dürer-Straße ist kalt und feucht, 96 Prozent Luftfeuchtigkeit zeigen die kleinen Hygrometer, die überall in dem alten Bau verteilt sind. Es riecht nach Muff und Staub, das Parkett wellt sich, in der Ecke bei den Sprossenwänden liegen alte Kartenständer, kaputte Monitore, Tische und Bänke. Denkbar schlechte Verhältnisse für Bücher, die ja nur aus Druckerschwärze und holzhaltigem Papier bestehen. Verpackt in tausende Kisten, beschriftet mit Laufnummern, Schlagworten und Signaturen, harrt die DDR-Bibliothek hier besserer Zeiten. Peter Sodann läuft durch die Halle, im Schatten des Bücherbergs wirkt er sehr klein. Seine Finger streifen über die Kartons, er witzelt: „Das Wertvollste an der deutschen Einheit ist die Bananenkiste, mit der kann man am besten Bücher transportieren.“
Obwohl hier alles so deprimierend ist, so im Verfall begriffen, strahlt der 72-jährige Schauspieler zwischen den Büchern frohe Gelassenheit aus. Diese Sache hier ist ihm eine Herzensangelegenheit – anders etwa als seine Bundespräsidentenkandidatur für die Linkspartei, für die er sich pflichtschuldig durch die deutsche Medienlandschaft poltert und kalauert. Er weiß, dass er am 23. Mai nicht gewählt wird, er macht sich einen Spaß daraus, für die Linke den Watschenmann zu geben. Und doch steckt in diesem mitunter verbiestert wirkenden Ostrentner ein sensibler Mensch. Dem Stern sagte er kürzlich, die ihm entgegengebrachte Häme habe ihn tief verletzt, „die nächste Stufe wäre doch, mich zu erschießen“.
Hier in Merseburg ist davon nichts zu spüren. Sodann und der Vereinsvorsitzende Eberhard Richter nehmen sich viel Zeit, um ihr Projekt zu erklären. „Wir sind kein DDR-Museum“, sagt der 66-jährige Richter. „Aber was 1990 passiert ist, ist eine Schande. Wenn die Welt wüsste, was damals an Büchern auf dem Müll gelandet ist, müssten wir Deutschen kulturpolitisch den Mund halten.“ Für ihn ist die Bibliothek eine Frage des Anstands, der Verantwortung, „der Peter ist da viel emotionaler, der hat mit der Sammelei angefangen“.
Mit 17 Leuten haben sie vor drei Jahren den Förderverein gegründet, 39 sind sie inzwischen. Ihr Ziel ist es, eine Präsenzbibliothek aufzubauen, also ein Haus, in dem gelesen wird, aber nicht ausgeliehen. Einen warmen, trockenen Ort, an den die Leserinnen und Leser kommen können, um unter einer Lampe in dieser einen, wunderschönen Ausgabe von Shakespeares Märchen zu blättern, die sie aus ihrer Kindheit kennen. Oder nachzulesen, wie in der DDR Schäferhunde gezüchtet wurden. Oder sich zu vergewissern, was Erich Honecker auf dem XI. Leipziger Bauernkongress 1972 von sich gegeben hat. „Keine Zukunft ohne Rückschau“ ist ihr Motto.
Steht man mit den beiden Männern am Fuße des Büchergebirges und schaut ihnen zu, wie sie in der eiskalten Halle hier einen Atlas herausziehen und dort freundlich eine Bananenkiste tätscheln, scheint dieser Plan pure Utopie. Viel schlechter könnten die Bedingungen für das literarische Gedächtnis der Ostdeutschen kaum sein. Die Bibliothek muss zügig raus hier. Aber es fehlt – wie so häufig in Fragen der Alltagskultur – am Geld. Eberhard Richter sagt: „Ich hätte den Büchern gern diesen Winter erspart.“
Das sieht auch Siegfried Lokatis so. „Wir wollen nicht nur die ‚schönen‘ Bücher bewahren“, sagt der Buchwissenschaftler von der Universität Leipzig, „jedes Buch, egal wie schlecht, muss erhalten bleiben.“ Als sich der Verein in Merseburg gründete, hat sich Lokatis gleich an Sodann und seine Leute gewandt. Seitdem berät er die Merseburger wissenschaftlich, im Gegenzug hält Sodann Seminare für Lokatis’ Studenten. Der 52-Jährige hält die besondere Tradition Leipzigs hoch. Hier hat das Literaturinstitut seinen Sitz, auch die renommierte Hochschule für Grafik und Buchkunst. Die Leipziger Buchmesse war für DDR-Bürger ein kleines Stück Freiheit, geistige Freiheit. Vor allem Jugendliche pilgerten damals zu den Ständen von Suhrkamp und Rowohlt, klauten Bücher, lauerten wie Groupies den Autoren auf. Dass ausgerechnet das Land, in dem Bücher weniger kosteten als zwei Graubrote, sich im Moment seines Untergangs so unbedacht von seiner Literatur trennen würde, hätte niemand geglaubt.
Zur Leipziger Buchmesse treffen sich auch jene, die sich mit dem Erbe des Leselandes DDR befassen. Am 14. März ab zwölf Uhr wird dort die Frage „Vom Müll ins Museum?“ diskutiert.
Auf dem Podium in Halle 5, Stand B600, sitzen Peter Sodann für die Merseburger DDR-Bibliothek, der Pfarrer Martin Weskott, der in Niedersachsen ostdeutsche Bücher sammelt, sowie Siegfried Lokatis, Buchwissenschaftler der Uni Leipzig.
Es geht darum, was mit den Büchern, deren Bestand laut dem Zentrum für Bucherhaltung extrem gefährdet ist, geschehen soll. Und vor allem darum, wie das Ganze finanziert werden kann.
So gesehen könnte die „herzliche Kooperation“, wie der Westler Lokatis sie nennt, für beide Seiten ein Stück deutsch-deutsche Selbstverständigung sein. Nun aber hat sich etwas Grundsätzliches geändert. Das Überleben der Bücher ist in Gefahr. Gerade hat er vom Zentrum für Bucherhaltung erfahren, dass alle DDR-Bücher so holzhaltig sind, dass es in 150 Jahren keines mehr geben wird. Gar keines? „Gar keines. Die Bücher müssen konserviert und entsäuert werden, wir können das doch nicht verrecken lassen.“ Mitte März, zur Buchmesse, „müssen wir was was bewegen. Jetzt ist professionelle Hilfe erforderlich.“
Es geht also wieder mal um Geld, viel Geld. Mehr Geld, als die Merseburger brauchten, um ihre Bücher ins Trockene zu bringen. Papier zu konservieren ist teuer, ein Buch zu entsäuern kostet 10 bis 12 Euro. Der Westler Lokatis argumentiert so, wie es die Kultursachwalter verstehen, die ihre Schatullen öffnen sollen: „Das kann sich im Moment keiner vorstellen“, sagt er, „aber in hundert Jahren werden diese Bücher so wertvoll wie die Blaue Mauritius sein.“
Peter Sodann wiederum lässt es ruhiger angehen. „So schnell geht das nicht“, beschwichtigt er, „die Bücher brechen ja nicht jeden Moment zusammen. Wir finden schon eine Lösung.“ Gut möglich, dass der Schauspieler aus Sachsen, der Büchernarr und Bewahrer aus Überzeugung, diesmal keine Lösung findet. Eine viertel Million Bücher, das ist ein sehr, sehr hoher Berg.
Anja Maier, 43, ist taz-Reporterin. Sie hat zu DDR-Zeiten nach amerikanischer Literatur gedürstet und aus Liebe Reiner Kunzes (verbotenen) Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ auf ihrer Erika-Schreibmaschine abgetippt