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Archiv-Artikel

Das T-Shirt wird zum Besserwisser

Eine internationale Modenschau führte im Stilwerk die Kleidung der Zukunft vor. Die ist beängstigend intelligent

Es geht mehr als steil bergauf. Jacke wie Hose werden richtig hochbegabt sein

Kleidung war nie so intelligent wie heute. Sie war auch nie bescheuert. Das behauptet niemand. Wenn man aber die Entwicklung der Kleidungsintelligenz als eine Linie darstellt, dann wird diese Linie gerade zur Senkrechten. Es geht mehr als steil bergauf. Jacke wie Hose werden bald richtig hochbegabt sein. Verglichen mit der IQ-Geschichte des Menschen mutiert in Kleidungssachen der Homo erectus gerade zum Homo supersapiens. Übergangslos. Die aktuellsten Ausprägungen dieses intellektuell krass steilen Anstiegs wurden am Montag im Stilwerk über den Laufsteg getragen.

Titel der Modenschau, die zur Europäischen Wissenschafts- und Technologiewoche in Berlin vom VDI-Technologiezentrum veranstaltet wurde: „i-wear“ – klevere Kleidung also. Oder „smart clothes“. Zurzeit sind all die schlauen Sachen auf dem Weg nach Barcelona und Paris, in die nächsten Veranstaltungsorte.

Eine Reiterweste mit Airbag etwa. Im schwarzen Design des klassischen Pferdemädchen-Outfits. Fällt Wendy vom Rappen, bläst sich die Joppe am Rücken dank Kaltgasgeneratoren auf. Dasselbe gibt es für Motorradfahrer. Die Models stürzten sehr glaubwürdig von ihren imaginierten Bikes und sahen anschließend aus, als schwämmen sie, der Rettung harrend, mit Weste im Wasser. Eingekleidet in Straßenkehrerwarnfarbe Leuchtorange.

Wer gerade weder vom Pferd noch vom Gefährt fällt, sondern statt dessen inaktiv am Schreibtisch sitzt, der kann sich von Zeit zu Zeit durch ein im Bauchweggürtel-Design gehaltenes Gadget am Rücken kitzeln und somit zum Stellungswechsel animieren lassen. Wenn er das überhaupt merkt, vor lauter Freude über die verschwundene Neurodermitis. Es juckt nichts mehr, weil die erkrankte Haut effektiv von hellen Stoffen vor Umwelteinflüssen geschützt wird.

Zum Schutz vor dem Umwelteinfluss Sonne dient seidenhauchige „Party- und Poolgarderobe für Sie“. Das Gewebe reflektiert die Sonnenstrahlen, während auf anderen Jacken Solarzellen die Schulterpolster ersetzen. Besonders intelligente Träger noch intelligenterer Kleidung können sich den Sonnenschutz auch selbst bauen, indem sie möglichst große Mengen Sonnencreme von außen auf eine ebenfalls vorgestellte schmutzabweisende Jacke schmieren. Wenn es nun noch gelänge, die Funktion der geruchsschluckenden Stoffe einzubinden, würde das nicht einmal unangenehm riechen. Für gewöhnlich dürfte die Innovation vor allem nach Kneipenaufenthalten ihren Nutzen entfalten. Universal verwendbar sind dagegen fliegengewichtige Sportblazer. Lausige 500 Gramm schwer. Fünf Tafeln Schokolade sind das. Oder eine Zeitschrift.

Außerdem lief über den Laufsteg: Verschiedenes zur Abwehr elektromagnetischer Strahlung, eine schlaue Kniebandage zur Vorbeugung möglicher Verletzungen, eine Jacke, aus deren Kapuze Walkman-Kopfhörer ins Ohr führen, so etwas Ähnliches mit einem Rucksack für Handys, ein in eine Jacke integriertes Navigationssystem für Fahrradkuriere, mit dem sich das Schloss ferngesteuert öffnen lässt. Und, und, und.

Wann es all die schönen Schlauberger-Klamotten zu kaufen gebe, das hänge ganz davon ab, „ob Sie bereit sind für den Wandel“, sagte Isa Hofmann, Brandmanagerin der Messe Frankfurt, die die Show mitveranstaltete, nachdem Wilhelm Rauch von der Industrievereinigung Chemiefaser einen Kurzvortrag über die Bedeutung der Chemiefaser gehalten hatte, mit dem Fazit: „Die Chemiefaser blickt in eine bedeutende Zukunft.“ Susanne Ahlers, Staatssekretärin für Wirtschaft, sah sich gar genötigt, Berlin als „Hauptstadt des Designs“ auszurufen.

Hofmann wiederum erwartet gerade auf dem geriatrischen Markt ein „gigantisches Potenzial“. Vor allem eine Neuerung der Modenschau stammte aus diesem Boomsektor. Ein T-Shirt zur „Aufnahme der Vitalparameter“. Man muss sich gut überlegen, ob man im Alter solch einen Besserwisser anzieht. Informationen liefert das Hemd unter anderem über Herzschlag und Atem. Am Ende kann es dann so kommen: Man ist tot und merkt das selbst gar nicht mehr. Nur das T-Shirt weiß genau bescheid. Unheimlich intelligent.

JOHANNES GERNERT