Milliarden Euro gegen Migration: KI an der Grenze
Europa baut ein KI-Kontrollsystem an seinen Grenzen auf – finanziert von der EU, vorangetrieben von Deutschland. Die Rüstungsindustrie profitiert.
Jahrzehntelang nutzten Grenzschutzbeamte in der Region Idomeni, an der griechischen Grenze zu Nordmazedonien, ein ungewöhnliches Warnsystem: Wenn die Störche, die auf einer Brücke über dem Fluss Vardar nisteten, plötzlich losflogen, wussten die Beamten, dass sich etwas in den Büschen darunter bewegte – in der Regel Migranten, die versuchen, Griechenland Richtung Nordeuropa zu verlassen.
Doch bald werden die Störche überflüssig sein. Kameras und Drohnen, unermüdlich und von Brüssel finanziert, werden ihren Platz einnehmen. Griechenland plant, das Hightech-Überwachungsmodell, das es an der Grenze zur Türkei nutzt, auch entlang seiner Nordgrenze einzusetzen. Ein Weg für Asylsuchende in die EU und insbesondere nach Deutschland wird damit versperrt.
Deutschland will weniger Zuwanderung, die EU finanziert neue Technologien, und Griechenland wird zum Versuchslabor für Europas KI-fähiges Grenzregime. Unter dem Deckmantel der Forschung werden dabei nicht nur Menschenrechte missachtet, sondern auch der Datenschutz ausgehebelt. Eine fehlende öffentliche Kontrolle bei der Vergabe von EU-Mitteln führt dabei zu hohen Profiten für Rüstungsunternehmen und Forschungsinstitute.
Im September nahmen hochrangige EU-Grenzbeamte an einem internen Meeting in der Zentralevon Frontex, der EU-Grenzschutzagentur in Warschau, teil. Das Thema: „Innovation“. Zwei der Teilnehmenden zufolge wurde dort ein von Frontex getestetes Überwachungsnetzwerk aus Drohnen vorgeführt. Die senkrecht startenden Fluggeräte schwebten entlang der bulgarisch-türkischen Grenze und übertrugen Echtzeitvideos an die Kommandozentrale in Warschau. Ein KI-System meldete dabei „Anomalien“ – soll heißen, Menschen, die sich auf der Flucht befinden und versuchen, in die EU einzureisen.
Effektivere Grenzen durch KI
Entwickelt wurden diese Drohnen von Shield AI. Das Unternehmen aus Kalifornien behauptet, dass sein Pilotprojekt in Bulgarien – einem Land, dem wie Griechenland die systematische Verletzung der Rechte von Asylsuchenden vorgeworfen wird – irreguläre Grenzübertritte und Kriminalität „signifikant reduziert“ habe. Shield AI wollte sich auf Anfrage nicht zu seiner Technologie äußern.
Frontex ließ in der schriftlichen Antwort auf eine Anfrage mitteilen, dass die Agentur „keine Hochrisiko-KI-Systeme nutze“. Als solche werden Technologien deklariert, die in den Bereichen Migration, Asyl und Grenzkontrolle eingesetzt werden und auf künstlicher Intelligenz basieren. Doch in der Praxis koordiniert Frontex durchaus KI-getriebene Pilotprojekte, die wie operative Einsätze funktionieren und Auswirkungen auf Betroffene haben. 2024 startete Frontex beispielsweise ein weiteres Testprojekt zur taktischen Überwachung von Landgrenzen und Küsten mit unbemannten Flugsystemen (UAS) mit einer Flugdauer von mehr als acht Stunden.
Die KI-Verordnung, die im August 2024 in Kraft getreten ist, besagt, dass KI-Systeme im Bereich Migration und Asyl „unter keinen Umständen von nationalen oder europäischen Behörden dazu verwendet werden dürfen, um die Rechte von Asylsuchenden zu umgehen“, beispielsweise durch überwachungsgestützte Pushbacks, bei denen Drohnen dabei helfen, Menschen aufzuspüren und über die Grenze zurückzudrängen.
Doch „Forschungsprojekte“ der EU, wie sie beispielsweise von Frontex durchgeführt werden, unterliegen geringeren Transparenz- und Dokumentationsanforderungen als offiziell implementierte Systeme. Die EU-Kommission erwähnte gegenüber dem MDR, dass „Forschungsprojekte oft noch nicht durch den derzeitigen Rechtsrahmen abgedeckt“ seien, da Forschung dazu da sei, neue Ideen und Lösungen zu finden. Jedoch zeigen die Projekte von Frontex, wie schwer es sein kann, zwischen Tests und operativen Einsätzen zu unterscheiden.
Vom Evros nach Nordmazedonien
Niovi Vavoula hält diese Unterscheidung zunehmend für unmöglich. Die Professorin für Recht und Cyberpolitik an der Universität Luxemburg hat sich intensiv mit den KI-Regulierungen in Europa auseinandergesetzt. Sobald Systeme an realen Personen in unkontrollierten Umgebungen – wie mit Shield AI in Bulgarien – getestet würden, könne man nicht mehr von „Testphase im Forschungsbereich“ sprechen. Denn der Einsatz habe, trotz Pilotprojekt-Etikette, konkrete Konsequenzen für echte Menschen. „Forschungsausnahmen sollten dafür nicht mehr gelten“, sagt Vavoula.
Dass Frontex behauptet, keine Hochrisiko-KI einzusetzen, ist für die Expertin Teil einer Strategie. Die Behörden sprächen lieber von „Algorithmen“, „Automatisierung“ oder „Innovation“. „Sie verstecken sich hinter allgemeinen Begriffen“, sagt Vavoula. So könnten sie sich einer genauen Prüfung entziehen – und die Systeme weiterentwickeln, ohne sie als KI bezeichnen zu müssen.
Bram Vranken ist Forscher beim Corporate Europe Observatory, einer in Brüssel ansässigen Beobachtungsstelle für die Lobbyarbeit großer Technologieunternehmen. Vranken sagt: „Grenzmanagement wird als entscheidend für die nationale Sicherheit angesehen. Daher wird von der EU alles, was mit Grenzen zu tun hat, zunehmend von demokratischer Kontrolle, Rechenschaftspflicht und Transparenz ausgenommen.“ Das zeige sich besonders am technologischen Aufrüsten an der nördlichen Grenze Griechenlands. Im Rahmen einer Sondermaßnahme der EU namens „E-Surveillance“, also E-Überwachung, werden 35,4 Millionen Euro investiert, um diese Grenze zu sichern.
Veröffentlichungen, interne Protokolle und technische Dokumente, die im Rahmen dieser Recherche geprüft wurden, enthalten detaillierte Pläne für mobile Einsatzleitstellen. Diese Allradfahrzeuge werden mit Wärmebildkameras, Drohnen und verschlüsselten Kommunikationssystemen ausgestattet und zusammen mit Überwachungsanlagen entlang der Grenze zum Einsatz kommen. Warnmeldungen werden in ein Datenmanagementsystem eingespeist, das Live-Feeds an die Kommandoposten überträgt.
„Brüssel will Ergebnisse. Berlin will weniger Migranten.“
Jahrelang widersetzte sich Griechenland dem Druck der EU, die Kontrollen an seiner nördlichen Grenze zu verstärken, die oft von Schutzsuchenden zur Weiterreise nach Westeuropa genutzt wurde. Die griechische Politik tolerierte diese Bewegungen bis zu einem gewissen Grad, um den Druck im eigenen Land zu verringern. Doch nach einer vernichtenden Schengen-Evaluierung im Jahr 2021 drängte die EU Athen, die Außengrenzen der Union besser zu schützen und ein einheitliches Netz aufzubauen. „E-Surveillance“ wird nun eingeführt, die Behörden streben eine vollständige Inbetriebnahme bis 2027 an.
Die Region am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros war einst Testlabor und ist inzwischen das Vorbild. Das technisch hochgerüstete System, das Migranten an ihrer Südgrenze von der Einreise in die EU abhalten sollte, wird nun eingesetzt, um Migranten innerhalb der griechischen Grenzen zu halten – und sie daran zu hindern, über die Balkanroute nach Norden zu gelangen.
Griechenlands eiliges Bemühen, die eigenen Grenzen undurchdringbar zu machen, könnte mit einem Treffen zwischen Bundeskanzler Friedrich Merz und dem griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis im Mai 2025 zusammenhängen. Merz richtete direkte Worte an seinen griechischen Amtskollegen: „Die Sekundärmigration von Griechenland nach Deutschland muss reduziert werden. Die Rückführungen müssen zunehmen.“
Deutschland fordert seit geraumer Zeit, die Balkanroute zu schließen. Griechenland zögerte bisher aus Sorge, dass sich eine unüberschaubare Menge an Migranten im Land aufhalten könnte, die weiterreisen möchte. „Brüssel will Ergebnisse. Berlin will weniger Migranten. Athen liefert beides – so einfach ist das“, sagt ein hochrangiger Regierungsbeamter, der die Migrationsagenda der EU kennt, aber nicht namentlich genannt werden will.
Interesse an Abschreckung
Im vergangenen November besuchte zudem der Innenminister Griechenlands, Thanos Plevris, seinen deutschen Amtskollegen Alexander Dobrindt. Dabei ging es erneut darum, Migration einzudämmen. Über das Treffen wurde berichtet: „Deutschland [ ] zeigte Interesse an der neuen griechischen Abschreckungsgesetzgebung, die bereits im letzten Quartal zu einem Rückgang der illegalen Migration um 45 Prozent geführt hat.
Danach gefragt, ob das Bundesinnenministerium Druck auf Griechenland ausübt, lautet die offizielle Antwort: „Die Bundesregierung unterstützt Maßnahmen, die zu einem wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen und zur Bekämpfung der menschenverachtenden Schleusungskriminalität beitragen.“ Dem Ministerium zufolge entscheiden die Mitgliedstaaten selbst, welche technischen Systeme sie zur Grenzsicherung einsetzen. Die Bundesregierung würde dies nicht bewerten.
Die Grenzschutzstrategie der CDU/CSU Union wird von der EU durch den mit 6,24 Milliarden Euro dotierten BMVI-Fonds (Border Management and Visa Policy Instrument, 2021–2027) unterstützt. Darüber hinaus stellt Horizon Europe (2021 – 2027), ein wissenschaftliches Forschungsprogramm, weitere Hunderte Millionen für Innovationen im Bereich Sicherheit und Grenzschutztechnologie bereit.
„Die EU ist entschlossen, KI im Grenzmanagement einzuführen“, erklärte Theofanis Papadopoulos, Leiter der griechischen Verwaltungsbehörde für Migrations- und Innenpolitik, auf Anfrage. „Sie vergeben Fördermittel, die auf KI und elektronische Überwachung ausgerichtet sind. Sie stellen Finanzmittel dafür bereit und veröffentlichen Ausschreibungen mit dieser ganz konkreten Ausrichtung. Das gibt den Mitgliedstaaten Anlass, sich in diese Richtung zu bewegen.“
Die Gewinner des Tech-Booms
Gewinner dieser Politik sind Unternehmen, die Militär- und Migrationsportfolios miteinander verbinden. Denn an Grenzen eingesetzte KI-Technologien sind nicht nur Militär- und Sicherheitstechnik, sondern immer auch kommerzielle Produkte. Davon profitieren auch israelische Firmen, die ihre Technologien bereits im Gaza-Krieg getestet haben. Elbit Systems, das größte Rüstungsunternehmen Israels, setzt seine Hermes-900-Drohnen, die 2024 erstmals über Gaza im Einsatz waren, für unbewaffnete EU-Seekontrollen ein.
Ein weiteres Beispiel ist das israelische Heron-System von Israel Aerospace Industries. Es wurde von Frontex für die Überwachung des Mittelmeers 2020 erstmals unter Vertrag genommen. Die Drohnen helfen bei der Grenzverteidigung und der Migrationskontrolle. So liefern sie der griechischen Küstenwache beispielsweise hochpräzise Informationen über Boote und Schiffe, die von Libyen aus in Richtung Kreta fahren.
Doch nicht nur Rüstungsfirmen verdienen am Technologietrend der EU. Zu den deutschen Hauptprofiteuren von Fördergeldern im Sicherheitsbereich zählen die Institute der Fraunhofer Gesellschaft. Monitoringberichten zufolge war Fraunhofer an 1.141 Projekten des EU-Rahmenprogramms Horizon 2020 beteiligt, für das Horizon Europe Programm kamen weitere 120 Projekte hinzu. Fraunhofer erhielt damit rund 1,13 Milliarden Euro von der EU. Ein Brancheninsider bringt es auf den Punkt: „Geflüchtete werden zu einer Ware. Jeder bekommt ein Stück davon.“
Dafür sorgt auch die Brüsseler Sicherheitslobby. Sie agiert als ein Netzwerk miteinander verbundener Verbände, das hauptsächlich aus ASD (AeroSpace and Defence Industries Association of Europe), EOS (European Organisation for Security) und ECSO (European Cyber Security Organisation) besteht. Diese Gruppen drängen auf eine technologieorientierte Agenda, wie aktuelle Analysen zum Lobbying im Bereich Verteidigung und Sicherheit in der EU dokumentierten. Oftmals sind dabei dieselben Personen in mehreren Funktionen aktiv. Giorgio Mosca vom italienischen Rüstungsriesen Leonardo beispielsweise war Vorsitzender von EOS und leitet die Cyber Task Force der ASD. Dabei lauten die Lösungen immer ähnlich: Technologien der Zukunft schaffen Sicherheit. Eine Sicherheit, die von Unternehmen definiert wird.
Der Technologie-Markt
Es wird zusehends schwieriger, eine Trennlinie zwischen ziviler, Sicherheits-, und Rüstungsindustrie zu ziehen. Die EU-eigene Strategie fördert zivile Innovationen, die in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit eingesetzt werden sollen. In diesem Rahmen werden Start-ups, KMUs und Universitäten in die Lieferketten der Verteidigungsindustrie als sogenannte Public-Private-Partnerships eingebunden. Entwicklungen für kommerzielle oder akademische Zwecke können so schnell für Überwachungsmaßnahmen umfunktioniert werden.
Die Verschmelzung verschiedener Interessen zeigte sich auch im Mai in Athen. Auf der Verteidigungsmesse DEFEA präsentierten Unternehmen die Fusion von Verteidigung und Daten. Zu sehen waren Plattformen, die Radardaten aus mehreren Quellen zusammenführen, „Heatmaps“, die Migrationsströme vorhersagen, sowie Kameranetzwerke, die mit maschinellem Lernen arbeiten. In den Messehallen wimmelte es von Start-ups, die Käufern ihre Ideen vorstellten. Sogar die Europäische Kommission war mit einem Stand vertreten.
Befürworter von Hightech-Grenzen sehen Vorteile solcher Innovationen. Hans Leijtens, der Exekutivdirektor von Frontex, erklärte, dass moderne Technologien „Leben retten können, die sonst verloren gegangen wären“. Die EU-Kommission betonte, dass Technologien effizienter als Menschen seien bei gleichzeitiger Wahrung von Grundrechten.
In der Theorie klingt das vielversprechend, in der Praxis fällt die Bilanz beunruhigend aus. Im Juni 2023 sank ein überfülltes Fischerboot, das Hunderte Migranten aus Libyen nach Italien beförderte, vor Pylos, innerhalb der griechischen Such- und Rettungszone, direkt vor den Augen von Menschen – und Maschinen. Denn auch die hochgerüstete Überwachungstechnik sorgte nicht dafür, dass die Verantwortlichen rechtzeitig einschritten.
Auf Kosten von Menschen
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen berichten, dass trotz der zunehmenden Verbreitung von Drohnen und Kameras Pushbacks und Misshandlungen weiterhin stattfinden. Intelligente Grenztechnologien könnten Menschenrechtsverletzungen sogar verschärfen oder erleichtern. Für die Expertin Niovi Vavoula steht dies außer Frage. „Diese Technologien sind nicht darauf ausgelegt, Mitgefühl für Asylsuchende zu zeigen“. An der Grenze gehe es um Abschreckung, nicht um Schutz.
Innerhalb der EU betonen Beamte immer wieder „Meilensteine“, „Innovationen“ und „effektivere Grenzkontrollen“ durch Hightech. Den Rechten derjenigen, die von diesen Systemen erfasst, profiliert oder falsch klassifiziert werden, wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt. „Sobald ein Ökosystem aufgebaut ist“, sagt ein Brüsseler Insider, „braucht es neue Bedrohungen, um es am Leben zu erhalten.“
Die Recherche basiert auf einer mehrmonatigen Untersuchung eines internationalen Journalist*innenteams in acht Ländern. Es wurden mehr als zwei Dutzend Beamte, Insider und Frontbeamte interviewt. Zudem wurden Hunderte Seiten öffentlicher und interner Dokumente, Informationen nach dem Informationsfreiheitsgesetz, Beschaffungsunterlagen und technische Dokumentationen geprüft. Die Ergebnisse der Recherche werden auch bei Inkstick (USA), Solomon (Griechenland) und SWI Swissinfo.ch (Schweiz) veröffentlicht.
Diese Recherche wurde gefördert vom Investigative Journalism for Europe Fund und dem Pulitzer Center.
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