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Fußball-Wunder in AfrikaAuf direktem Wege

Einfach quer über den Ozean: Der afrikanische Außenseiter Kap Verde qualifiziert sich dank eines guten Scoutings erstmals für eine WM der Männer.

Feiern wie die Weltmeister: Nationalspieler von Kap Verde nach dem letzten Spiel in der WM-Quali gegen Eswatini Foto: Cristiano Barbosa/ap

Im Oktober schauen die Bewohner der Kapverden gern auf den Atlantik hinaus. Es ist die Zeit, in der das Meer zuweilen den Blick auf vorbeiziehende Manta-Rochen und Walhaie erlaubt – ein beliebtes Schauspiel. Am vergangenen Montag wendeten beinahe sämtliche Einwohner der ehemaligen portugiesischen Kolonie die Blicke ab. Man schaute auf TV-Geräte und Leinwände bei Public Viewings. Zumindest all jene, die nicht zu den Glücklichen gehörten, die ein Ticket fürs Fußballstadion ergattert hatten.

Das Fußballnationalteam der Kapverden trat im letzten Qualifikationsspiel der WM 2026 gegen Eswatini an. Es war das ganz große Match. Die „Blauen Haie“, wie das Team von seinen Leuten liebevoll genannt wird, hatten in den vorangegangenen neun Partien der Gruppenphase Erstaunliches geleistet. Sie führten die Tabelle vor dem großen Favoriten Kamerun an. Ein Sieg noch – und die Sensation wäre geschafft.

Doch die Dinge liefen zäh. In der ersten Spielhälfte taten sich die Inselkicker schwer gegen das enorm tief verteidigende gegnerische Team. 0:0 zur Halbzeit. Die Nerven wurden von Minute zu Minute ärger strapaziert. Und dann – in der 48. Minute – die große Erlösung: Dailon Livramento fiel der Ball nach einem Flankenball förmlich vor die Füße und der Stürmer vom portugiesischen Klub Casa Pia vollendete per Rechtsschuss zur 1:0-Führung. Der Bann war gebrochen.

Nun liefen die Angriffe flüssiger: Nur sechs Minuten später stand es nach Willy Semedos Tor 2:0. Der Jubel auf dem Feld und den Tribünen im Stadion Estádio Nacional de Cabo Verde kannte kaum noch Grenzen, man hatte Mühe, die Spieler überhaupt zur Fortsetzung des Matches zurück aufs Spielfeld zu bekommen. 3:0 stand es am Ende – die Kapverden hatten es geschafft: die Qualifikation für die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr.

Lange gab es gar keine Nationalmannschaft

Man spricht bei derlei Ereignissen gern vom „Fußball-Wunder“. Ein strapazierter Begriff, der die Dinge auf den Kapverden aber ganz gut trifft. 530.000 Einwohner leben auf 9 der 15 Inseln, jahrelang kämpften ganze neun Fußballvereine während eines einwöchigen Turniers um die Meisterschaft. Allerdings sind die Kapverden mehr als ihre neun bewohnten Inseln im Zentralatlantik. Weltweit leben mehr Menschen mit kapverdischen Wurzeln außerhalb der Landesgrenzen des Inselstaates als innerhalb. Erst 2005 wurde eine regelmäßige Meisterschaftsrunde eingeführt – mit nun zwölf teilnehmenden Mannschaften, die seither Spieltag für Spieltag zwischen den neun bewohnten Inseln des Landes hin- und herschippern.

Tja, und eine Nationalmannschaft – die gab es lange gar nicht. Erst 1984 wurde eine Gruppe junger Fußballer der drei größeren Inseln São Vicente, Santiago und Sal zusammengestellt, die das erste offizielle Länderspiel bestritt. Gegen Sierra Leone bezog das unerfahrene Team damals eine Niederlage, die mit 0:2 durchaus achtbar ausfiel. Für den Afrika-Cup oder gar eine Weltmeisterschaft versuchte man sich lange erst gar nicht zu qualifizieren. Man drückte stattdessen dem Team Portugals die Daumen, wenn größere Events anstanden.

Bis Lúcio Antunes kam. Der Hobbyfußballer übernahm 2010 die Nationalmannschaft. Er hatte eine Idee: Antunes schaute sich in der Fußballwelt nach höherklassigen Spielern mit kapverdischen Wurzeln um. Der damals 46-Jährige war erfolgreich. Mit Spielern aus Portugal, Frankreich und vielen in Osteuropa tätigen Profis stellte er ein neues Team zusammen, das 2013 die erste ganz große Sensation schaffte: Nachdem man in der Qualifikation das afrikanische „Fußball-Schwergewicht“ Kamerun ausgeschaltet hatte (2:0 und 1:2) qualifizierten sich die Kapverden 2013 erstmals für das Endturnier des Afrika-Cups in Südafrika. Und nicht nur das: Man erreichte auf Anhieb das Viertelfinale des wichtigsten sportlichen Ereignisses Afrikas. Für Antunes hatte der Fußball-Erfolg weitreichende Folgen: Er musste seinen Job als Fluglotse aufgeben, setzte fortan ganz auf die Karte Fußballtrainer.

Das größte Problem: die Finanzen

Viele seiner Profis standen zwar lediglich in zweiten oder dritten Ligen in Europa auf dem Platz. Aber sie waren begeistert von der Gelegenheit, für ein Nationalteam zu spielen. Für manche startete die Nationalmannschaftskarriere im Internet. Als etwa Roberto Carlos Lopes, gebürtiger Ire, auf LinkedIn seine kapverdische Mutter erwähnte, nahm der kapverdische Fußballverband Kontakt auf. Es dauerte damals etwas, bis Lopes tatsächlich im Inseltrikot auf dem Rasen stand. Er hatte die Nachricht zunächst ignoriert, weil er kein Portugiesisch konnte. Erst ein halbes Jahr später – man hatte ihn nochmals angeschrieben – reiste er erstmals auf die Inseln.

Die Finanzen waren bei aller fußballerischen Qualität das große Problem der Kapverden. Das Land hat keine Bodenschätze, Landwirtschaft ist auf den regenarmen Inseln vor der westafrikanischen Küste kaum möglich. Gerade einmal umgerechnet 1.800 Euro pro Mann bekamen die Spieler damals nach der geschafften Qualifikation für die Endrunde der Afrikameisterschaft. Um die Reise nach Südafrika überhaupt finanzieren zu können, mussten Sonderaktionen her. In den Wochen vor dem Turnier wurde eine Stiftung gegründet, in die alle Bürger der Inselgruppe einzahlten. Zusätzlich zu den Spenden gingen die Einnahmen aus einem Benefizkonzert und zehn Prozent aus dem Verkauf einer Sonderbriefmarke in den Fonds, der letztlich die Reise der Nationalmannschaft absicherte.

Heute – zwölf Jahre nach dem ersten großen Coup – hat sich einiges geändert: Der finanzschwache Fußballverband bekam von Handelspartner China für 15 Millionen Euro ein nagelneues Nationalstadion mit Kunstrasen in Praia spendiert, in das 15.000 Zuschauer passen. Der Weltfußballverband Fifa hat zudem Entwicklungsgelder locker gemacht. Trainer Antunes ist mittlerweile abgelöst worden. Roberto Lopes spielt zwar immer noch, hat aber beispielsweise auch schon den Weg an die Seitenlinie angetreten – er bildet mittlerweile hauptamtlich Nachwuchsfußballer auf den Kapverden aus.

Reif für den Triumph

Die Nationalmannschaft hat sich kontinuierlich weiterentwickelt. Aus dem einstigen „One-Hit-Wonder“ von 2013 ist ein Team geworden, das wie selbstverständlich den Großen des Kontinents die Stirn bietet. 2022 erreichte man das Achtelfinale beim Afrika-Cup, 2024 machte das Team den Eindruck, als sei es reif für den ganz großen Triumph. Souverän marschierten die „Haie“ durch die Vorrunde und das Achtelfinale der Kontinentalmeisterschaft, ehe im Viertelfinale äußerst unglücklich im Elfmeterschießen das Aus gegen Südafrika kam.

Für den kommenden Afrika-Cup, der ab dem 21. Dezember in Marokko stattfindet, hat sich die Mannschaft ganz locker qualifizieren können. Unter Nationaltrainer Pedro Brito, seit 2020 im Amt und von allen nur „Bubista“ genannt, gilt das Team als einer der Mitfavoriten auf den Titelgewinn.

Die Mannschaft ist gewachsen. Der aktuelle Star heißt Logan Costa, der Innenverteidiger spielt für den spanischen Erstligisten FC Villareal. Sein Marktwert wird auf 18 Millionen Euro geschätzt, damit ist er der wertvollste Spieler der Nationalmannschaft. Nicht verändert hat sich die Herkunft der Spieler. Sie alle erblickten zumeist in Europa das Licht der Welt. Costa ist gebürtiger Franzose, genau wie die Nationalmannschaftskollegen Steven Moreira vom US-Team Columbus Crew oder Willy Semedo, der auf Zypern für Omonia Nikosia spielt.

Weitere Stars wie Wagner Pina von Trabzonspor oder Telmo Arcanjo vom portugiesischen Erstligisten Vitória hätten auch für Portugal auflaufen können. Alle haben aber Eltern oder Großeltern von den Kapverden und sind nach Fifa-Regeln spielberechtigt für das Land. Heute sind alle 25 Nationalspieler Profis – verteilt auf 16 Länder, von den USA bis zur Türkei.

Nun also der Coup – die WM-Teilnahme. „Diesen Menschen von den Inseln diese Freude zu bereiten, ist enorm“, sagte Cheftrainer Bubista nach dem Sieg gegen Eswatini. Er findet: „Es ist ein besonderer Moment bei der Feier zum 50. Jahrestag unserer Unabhängigkeit. Viele Leute hier in der Hauptstadt Praia haben mir gesagt, die WM-Qualifikation sei das größte Ereignis auf den Kapverden seit der Unabhängigkeit am 5. Juli 1975.“

Tanz in der Hauptstadt

Verteidiger Moreira, der Mann von Columbus aus den USA, meinte: „Ehrlich gesagt, habe ich in Europa gespielt und in der MLS gewonnen, aber wenn man für sein Land spielt, ist das etwas anderes.“ Weiter strahlte er: „Ich kann es nicht beschreiben – die Leidenschaft, die die Fans einem entgegenbringen, ist einfach unglaublich. Und: Unsere Gruppe ist wie eine Familie. Das sieht man, wenn wir Tore schießen, wir sind immer zusammen und tanzen.“

Getanzt wurde am Montagabend in der Hauptstadt Praia noch lange. Nach dem Jubelsturm im neuen Nationalstadion wurden die Feierlichkeiten ins symbolträchtige Estádio da Várzea, verlegt, wo sich Tausende Fans zuvor zum Public Viewing versammelt hatten. Dort, in diesem betagten Stadion, hatte man 1975 die Unabhängigkeit gefeiert und hier bestritten die Kapverden im Jahr 2000 ihre allerersten WM-Qualifikationsspiele.

Livemusik von Künstlern, die aus aller Welt eingeflogen waren, sorgten für eine Party bis in den frühen Morgen. Im nächsten Jahr hoffen sie auf eine WM mit der ehemaligen Kolonialmacht. Portugal hat die Qualifikation aber noch nicht ganz geschafft – ein direktes Duell mit Cristiano Ronaldo und Co würde die Blicke der Einwohner zweifelsohne wieder vom Meer in Richtung der TV-Geräte wenden lassen.

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