: Sehenwirunswieder?
Vertreibung, Enteignung, Indoktrination von Kindern und Jugendlichen. Auf der Krim und in der Ostukraine macht sich Russland militärisch, politisch und ideologisch breit. Wie lebt es sich in den besetzten Gebieten?
Von Anastasia Magasowa
Switlana drückt mehrmals hintereinander auf das Telefonsymbol im Messenger. Sie will ihre Tochter erreichen. Doch es ertönt nur ein Freizeichen, niemand geht ran. Minuten später dann endlich das Signal einer eingehenden Nachricht. Es ist Olha, ihre Tochter. Switlana lebt auf der Krim, Olha in Kyjiw. Seit vier Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, seit jenem letzten gemeinsamen Sommer vor der russischen Vollinvasion 2022. Aus Sicherheitsgründen werden ihre echten Namen in diesem Text nicht genannt.
Whatsapp oder Telegram sind nahezu die einzigen Möglichkeiten, zu telefonieren. Doch die russische Telekommunikationsaufsicht Roskomnadzor versucht immer wieder, den Zugang der Einwohner der Russischen Föderation und der besetzten Gebiete der Ukraine, einschließlich der Krim, zu Sprachanrufen in den Messengern einzuschränken.
Auch jetzt, im Sommer 2025, hat Russland nicht vor, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Stattdessen drängen die USA die Ukraine dazu, ihre besetzten Gebiete faktisch aufzugeben – die Menschen, die dort leben, werden zur Verhandlungsmasse. „Die ukrainischen Gebiete sind keine Immobilien. Dort gibt es Millionen von Menschen, die in Unfreiheit leben. Alle, die sich gegen die Besetzung aussprechen, werden von Russland getötet, gefoltert, moralisch zerstört oder deportiert. Besatzung ist kein Frieden“, sagt Olha.
Als ihre Mutter Switlana Mitte der 1970er Jahre auf die Krim kam, war sie Anfang zwanzig und hatte gerade ihr Studium in Kamtschatka abgeschlossen. Sie heiratete, freute sich über die Geburt ihrer Tochter. Es war eine glückliche, zufriedene Zeit. Bis zum Jahr 2014 – der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland, die auch ihr Leben schlagartig veränderte.
Die 69-jährige Switlana erzählt heute, dass sie bereits nach 2014 viele Menschen aus ihrem Leben verbannt hat, die das illegale Vorgehen Russlands unterstützten. Nach dem Angriff 2022 wurde ihr Bekanntenkreis noch kleiner. „Jetzt kann man niemandem mehr seine Meinung sagen. Wenn man die Handlungen Russlands und seiner Armee offen kritisiert, wird man entweder verhaftet oder verschwindet spurlos“, sagt sie.
Derzeit befindet sich rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets unter russischer Kontrolle. Wie viele Menschen in diesen Gebieten leben, ist unklar. Russlands Präsident Wladimir Putin gab kürzlich bekannt, dass sich im April 2024 in den sogenannten „LNR“ und „DNR“ (den seit 2014 besetzten Teilen der Oblast Donezk und der Oblast Luhansk) sowie in den 2022 besetzten Teilen der Oblast Cherson und der Oblast Saporischschja rund 3,2 Millionen Menschen einen russischen Pass ausgestellt bekommen haben. Laut ukrainischen Vertretern bei den Vereinten Nationen haben zwischen 2014 und 2022 etwa 2,5 Millionen ukrainische Staatsbürger auf der Krim diesen Schritt vollzogen.
Die Zwangsausstellung russischer Pässe ist eines der ersten Instrumente zur „Russifizierung“ der ukrainischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Personen ohne Pass sind praktisch in allem eingeschränkt. Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Sozialleistungen, Bildung, Arbeit und dem Recht auf Reisefreiheit. Selbst diejenigen, die alles versuchen, um die Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft hinauszuzögern, sind früher oder später dazu gezwungen.
So führt die Besatzungsbehörde nach der Eroberung eines Gebiets sofort russisches Recht ein und verlangt die Umschreibung aller Dokumente, einschließlich der Vermögenswerte. Wegen dieser Vorschriften haben viele Ukrainer, die entweder aus den besetzten Gebieten geflohen sind oder deren Häuser durch russische Bomben zerstört wurden, nicht nur ihr Eigentum verloren, sondern auch das Recht auf ihr Eigentum, wenn sie nicht in die besetzten Gebiete zurückgekehrt sind und rechtzeitig einen russischen Pass erhalten haben. Anschließend verstaatlichen die Russen das Eigentum der Ukrainer. Sie verkaufen es, oder siedeln dort Staatsbeamte an. Das sind vor allem Militärangehörige und Lehrer, deren Aufgabe es ist, diese Regionen in Russland zu „integrieren“.
In Russland wurde gar ein staatliches Programm zur Umsiedlung von Personal – also von Beamten, Ärzten, Lehrern, Kulturschaffenden – ins Leben gerufen. So verändert Russland aktiv die demografische Zusammensetzung der besetzten Gebiete.
Gleichzeitig gehen die Besatzungsbehörden massiv gegen die lokale Bevölkerung vor. Die Staatsduma verabschiedete 2023 ein Gesetz, das erlaubt, Menschen aus allen Gebieten, in denen der Kriegszustand ausgerufen wurde – also aus den besetzten Gebieten der Ukraine –, zu vertreiben. Laut der russischen Statistikbehörde Rosstat haben 2023 mindestens 87.000 Menschen diese Gebiete offiziell verlassen oder wurden deportiert. Die Kinderrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, Maria Lwowa-Belowa, behauptet hingegen, dass etwa 4,8 Millionen Ukrainer, darunter 700.000 Kinder, nach Russland umgesiedelt seien. Im selben Jahr erließ der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Putin und Lwowa-Belowa wegen des Vorwurfs eines Kriegsverbrechens – der Deportation von Kindern.
Den Kindern in den besetzten Gebieten der Ukraine wird von Russland ohnehin viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Besatzungsbehörden bemühen sich, in diesen Gebieten so schnell wie möglich alles zu beseitigen, was an die Zugehörigkeit zur Ukraine erinnern könnte. Der Lehrplan entspricht dem russischen Lehrplan. Ukrainische Sprache, Literatur und Geschichte werden nicht mehr unterrichtet, und in den Geschichtsbüchern werden die besetzten Gebiete als zu Russland gehörig ausgewiesen. Ukrainische Kinder und Jugendliche werden darin geschult, Waffen zu zerlegen, sie lernen Militäruniformen zu tragen, üben Nahkampf und andere militärische Aktivitäten. Ab dem Alter von acht Jahren werden sie dazu ermutigt, sich der Organisation „Junarmija“ (Junge Armee) anzuschließen. All dies unter dem Deckmantel des russischen Patriotismus. Für Kinder ist es sehr schwierig, unter diesem Druck ihre ukrainische Identität zu bewahren.
Die Geschichte des 18-jährigen Iwan Sarancha aus Luhansk ist daher sehr ungewöhnlich. Als Russland vor elf Jahren seine Heimatstadt besetzte, war er gerade eingeschult worden. Er sagt, er sei damals noch zu klein gewesen, um zu begreifen, was die Besatzung bedeutete. Seitdem habe er keine Erinnerungen mehr an die Ukraine. Nur ein Bild sei ihm all die Jahre im Kopf geblieben: die gelb-blaue Flagge aus der ersten Schulstunde. Erst im Frühjahr 2025 sah er diese Flagge wieder, als es ihm gelang, aus der Besatzung zu fliehen. Freunde aus der ukrainischen Stadt Dnipro, mit denen er Kontakt hatte, halfen ihm dabei, russische Propaganda von der Wahrheit zu unterscheiden. Sie brachten ihm auch die ukrainische Sprache bei, die er während der Besatzung nie in der Schule gelernt hatte. Mit Hilfe von Freiwilligen gelang es Iwan Sarancha, nach Kyjiw zu kommen. Als seine Eltern erfuhren, wo er sich aufhielt, brachen sie den Kontakt zu ihm ab.
Dank einer Hilfsorganisation ist er nun ukrainischer Staatsbürger und setzt sich selbst für eine Initiative ein, die Menschen wie ihn unterstützt: Jugendliche, die die russische Besatzung verlassen und in der von der Ukraine kontrollierten Region leben möchten. Er verfolgt die politische Lage weiterhin sehr aufmerksam, äußert sich allerdings nicht zu einem möglichen „Austausch“ der besetzten Gebiete. Nur dies weiß Iwan Sarancha genau: „Ich möchte weder moralisch noch physisch dorthin zurückkehren. Ich glaube auch, dass die Russen mich einfach nicht am Leben lassen würden.“
Olha und Switlana, Tochter und Mutter, getrennt durch die Kriegsfronten, wollen sich ihren Schmerz und ihre Verzweiflung nicht anmerken lassen. Aber es gibt eine Frage, die sie stets begleitet und die sie nicht verdrängen können. „Vielleicht sehen wir uns nie wieder?“
Auch in der aktuellen Folge des taz-Podcasts Bundestalk geht es um die Gipfeldiplomatie in der Ukraine
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