Krieg und Fotos: Wie sieht Hunger aus?
Die Zivilbevölkerung in Gaza hungert. Hauptbetroffene sind Kinder. Was die Bilder aus dem Kriegsgebiet genau zeigen, muss aber analysiert werden.

D as Foto ist herzzerreißend: Eine Mutter hält ihren kleinen Jungen in ihren Armen, sein Rücken ist so abgemagert, dass man Rückgrat und Rippen sieht, seine Arme sehen aus wie zerbrechliche Zweige. Es ist das Aufmacherbild eines Kommentars in der Zeit vom 26. Juli über den Krieg in Gaza, geschrieben von Malin Schulz, der stellvertretenden Chefredakteurin und „Visual Director“ der Wochenzeitung. Überschrift: „So sieht Hunger aus“.
Die Zeit hat das Bild, das am 24. Juli aufgenommen wurde, retuschiert: Das Farbfoto, das in der Datenbank der staatlichen türkischen Fotoagentur Anadolu zu finden ist, stellte die Zeitung in Schwarz-Weiß, der Kontrast zwischen hellen und dunklen Tönen wurde zudem erhöht, damit der im Originalbild ohnehin schon erschreckende Zustand des Kindes noch dramatischer wirkt.
Der Junge heißt Mohammed Zakaria al-Mutawaq, er wurde im Krieg geboren, heute ist er anderthalb Jahre alt. Fotos von ihm erscheinen zurzeit in vielen Medien weltweit, als Symbolbild für die katastrophale Ernährungslage im palästinensischen Küstenstreifen. Am 23. Juli stand Mohammed etwa auf der Titelseite der britischen Boulevardzeitung Daily Express, am 24. Juli in einem Artikel von Sky News, am 25. Juli auf der Titelseite der New York Times und am 26. Juli auf der Titelseite der portugiesischen Zeitung Correio da Manhã – sowie in vielen weiteren Medien weltweit.
Was sie nicht erwähnten: Mohammed hat mehrere Vorerkrankungen, die seine Muskelentwicklung stark beeinträchtigen, darunter zerebrale Kinderlähmung, wie der britische Blogger David Collier aufdeckte. Er braucht spezielle Nahrungsergänzungsmittel und muss teilweise künstlich ernährt werden. Mohammeds Zustand ist schrecklich, aber nicht sinnbildlich. So sieht nicht, wie die Zeit nahelegt, Hunger typischerweise aus. Auch wenn zur Wahrheit gehört, dass er an Mangelernährung leidet. Die Tatsache, dass in Gaza nur die Hälfte der Krankenhäuser noch funktioniert und das nur teilweise, dürfte seinen Zustand nur rapider verschlechtert haben.
Schwemme an Desinformation in alle Richtungen
Jeder Krieg ist auch ein Krieg der Bilder. Um die Bilder aus Gaza wird derzeit heftig gerungen. Manche Nutzer können oder wollen nicht mehr unterscheiden, was echt ist und was nicht – auf beiden Seiten des Konflikts. Das Ergebnis ist eine Schwemme an Desinformation in alle Richtungen.
Fotos aus anderen Konflikten, vor allem dem syrischen Bürgerkrieg, werden fälschlicherweise Gaza zugeschrieben. Authentische Fotos aus Gaza werden als aus anderen Kriegsgebieten stammend diskreditiert. KI-generierte Bilder, die das Leid im Küstenstreifen zeigen sollen, gehen viral. Echte Bilder, die das tatsächliche Ausmaß der humanitären Katastrophe dort dokumentieren, werden als KI-Propaganda oder „Pallywood“-Inszenierungen abgetan.
Hinzu kommen berührende Bilder wie die von Mohammed Zakaria al-Mutawaq, einem vorerkrankten Kind in einer besonderen, prekären Situation. Seit Kriegsbeginn kursieren immer wieder ähnliche Fotos, ohne wichtigen Kontext. Am 24. Juli veröffentlichte die italienische Tageszeitung Il Fatto Quotidiano auf der Titelseite ein Bild des fünfjährigen Osama al-Raqab, wie die FAZ berichtet, ohne zu erwähnen, dass Osama an der vererbten Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose (zystische Fibrose) leidet und schon am 11. Juni nach Mailand ausgeflogen wurde, wo er behandelt wird.
Das Leid dieser vorerkrankten Kinder hat zweifelsohne mit der verheerenden Lage in Gaza zu tun. Manche äußern sich über diese Bilder dennoch hämisch und menschenverachtend. Ben Brechtken, Kolumnist beim rechtspopulistischen Portal Nius, kommentierte das Aufmacherbild des Zeit-Kommentars auf der Plattform X: „Die Mutter hat ein Doppelkinn.“ In einem weiteren Beitrag beschreibt er das Foto von Mohammed als „Hamas-Propaganda-Bild“. Andere teilen zynisch Fotos von übergewichtigen mutmaßlichen Gazaner oder schüren rassistische Ressentiments, dass ein weitverbreiteter Inzest die Ursache für solche Erkrankungen sei.
Hungernde israelische Geisel
Mit Hunger kommt die Macht der Bilder an ihre Grenzen. Ihn kann man nicht immer sehen. Nahezu alle in Gaza, außer vermutlich den Funktionären und Kämpfern der Hamas, die sich wohl gut verpflegt und hoch ausgerüstet weiterhin in ihren Tunneln verschanzen, leiden an einer Form des Hungers. Auch die israelischen Geiseln. Hungernde können aussehen wie der vorerkrankte Mohammed oder seine Mutter. Oder auch wie Mohammeds dreijähriger Bruder, der in weiteren Fotos in den Datenbanken der Fotoagenturen zu finden ist, nicht dem typischen Bild von Unterernährung entspricht und von einigen Medien herausgeschnitten wurde. Hungernde können auch wie der Israeli Rom Braslavski aussehen, der vom Nova-Festival entführt wurde und von dem die Terrorgruppe Palestinian Islamic Jihad am Donnerstag ein Video veröffentlichte, in dem er weinend und ausgemergelt um sein Leben bettelt.
Die Zeit hat inzwischen eine Bildunterschrift hinzugefügt und den Kommentar angepasst, um die Vorerkrankung von Mohammed deutlich zu machen. Auch die New York Times hat ihren Artikel richtiggestellt, nachdem sie seine Krankenakten ausgewertet hatte – ihr Büro wurde daraufhin mit roten Farbbeuteln und der Parole „NYT lies, Gaza dies“ beschädigt. Der Deutsche Journalisten-Verband fordert nun deshalb einen Ausbau der Bildredaktionen. „Bildredaktion heißt auch Factchecking“, sagte Bundesvorsitzender Mika Beuster.
Die Bilder aus Gaza, die übrigens palästinensische Fotojournalisten selbst machen müssen, da seit Kriegsbeginn Israel und Ägypten internationalen Medienschaffenden den Zutritt zum Streifen verwehren, vermitteln die verheerenden Zustände vor Ort auf eine Weise, die Fakten alleine nicht schaffen. Sie dokumentieren einen Krieg, der de facto unter Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit stattfindet. Sie erreichen Menschen auf eine emotionale Art, die Nähe und Empathie erzeugt. Und sie beeinflussen die Gaza-Politik vieler Länder.
Die emotionale Macht der Bilder ist ihre Stärke als Medium, sie lädt aber gleichzeitig zum ideologischen Missbrauch ein. Mangelnde Transparenz, fehlender Kontext sowie bewusste und unbewusste Verzerrungen untergraben das Vertrauen in die Medien und zwar von allen Seiten. Da muss die Presse wachsamer sein. Denn dieses Vertrauen ist die Grundlage der Branche. Es zu verspielen, wäre fatal.
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