Russische Angriffe auf die Ukraine: Die Explosionen kamen nach Mitternacht
Der Pryvos-Markt ist für die Bewohner von Odessa Herz und Seele der Stadt. Dann kommen die russischen Drohnen und hinterlassen ein Bild der Verwüstung.
Nichts war an diesem Donnerstagmorgen auf dem zentralen Pryvos-Markt in Odessa so wie sonst. Kein aufgeregtes Schnattern der Verkäuferinnen, kein lautes Anpreisen von Granatapfelsaft und Nüssen durch die georgischen und armenischen Verkäufer. Schweigen war angesagt, bei Käuferinnen und Verkäuferinnen.
Schon lange vor dem Betreten des Marktgeländes sticht dem Besucher der Geruch von Rauch in die Nase. Dann bietet sich ein Bild der Verwüstung. Viele Geschäfte sind ausgebrannt, ihre Wände im Inneren schwarz vor Ruß, in einer Ecke raucht es noch. Vor den Pavillons stehen Feuerwehrautos.
Offensichtlich hat die Feuerwehr zu dieser morgendlichen Stunde noch nicht den ganzen Brand gelöscht. Polizisten geben den Besuchern Anweisungen, wo sie gehen dürfen und wo nicht. Manche Geschäfte sind heil geblieben, haben nur die Schaufensterscheiben verloren.
Wieder haben in der Nacht auf Donnerstag russische Drohnen die südukrainische Millionenstadt terrorisiert. Irgendwann nach Mitternacht kamen sie, die Explosionen waren in der ganzen Stadt zu hören. Den diesmal getroffenen acht Hektar großen und über 200 Meter langen Pryvos-Markt, der auch als Fischmarkt eine gute Adresse ist, bezeichnen die Odessiten liebevoll als ihr Herz und ihre Seele.
„Ein fürchterliches Krachen“
Wortlos packt ein Ehepaar um die 50 seine wenigen Habseligkeiten, Spielsachen und Schreibwaren auf ein kleines Wägelchen und verlässt den Markt, ohne sich noch einmal zu ihrem kleinen Geschäft mit den verkohlten Wänden umzudrehen. Die beiden stehen für die vielen Kleinhändler auf dem Pryvos, die mit ihren kleinen Geschäften um ihr Überleben kämpfen.
Augenzeugin in Odessa
„Ich habe heute ein fürchterliches Krachen gehört“, sagt eine Dame in mittleren Jahren zu ihrer Freundin an diesem heißen Sommertag. „Dann bin ich auf den Balkon und habe den Pryvos-Markt in einem feuerroten Schein gesehen. Und da habe ich gewusst, dass es unseren Markt getroffen hat.“ Ihre Freundin schweigt. Aber beiden ist anzusehen, dass sie diesen Angriff auf den Pryvos-Markt empfinden, als hätte es ihre eigene Wohnung getroffen.
Doch die russischen Angriffe auf Odessa hatten nicht nur den Markt getroffen. Auch ein neunstöckiges Haus ist so weit in Mitleidenschaft gezogen, dass alle Wohnungen zwischen fünfter und neunter Etage zerstört sind. Das Gebäude, so die Katastrophenschutzbehörde, ist einsturzgefährdet. Drei Menschen wurden bei dem Angriff auf Odessa verletzt, berichtet strana.today.
Ein Tag zuvor noch, so Präsident Selenskyj zu den jüngsten Angriffen, habe die Ukraine in Istanbul der russischen Seite erneut einen Waffenstillstand vorgeschlagen. „Als Antwort darauf greifen russische Drohnen Wohnhäuser und den Pryvos-Markt in Odessa, Hochhäuser in Tscherkassy, die Energieinfrastruktur in der Region Charkiw, die Sporthalle der Universität in Saporischschja sowie die Regionen Donezk, Sumy und Mykolajiw an“, zitiert die Nachrichtenagentur Ukrinform Präsident Selenskyj.
Drohnen auch auf andere Städte
In der Nacht vom 23. auf den 24. Juli hatte Russland nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe die Ukraine mit über hundert Drohnen und vier Marschflugkörpern angegriffen. Betroffen waren neben Odessa vor allem Mykolajiw, Sumy, Charkiw, Tscherkassy und Saporischschja. Man habe 90 Drohnen und eine Rakete erfolgreich abwehren können, so die Luftwaffe.
Am Donnerstagmorgen traf es dann wieder Charkiw. 33 Menschen, so Bürgermeister Ihor Terechow, seien dabei verletzt worden. Nach Angaben von Terechow wurden mehr als zehn Mehrfamilienhäuser beschädigt. In einigen Wohnungen seien die Bewohner noch eingeschlossen. Außerdem, so Terechow, seien etwa 15 Autos in Brand geraten, eine Umspannstation beschädigt worden.
Auch im russischen Gebiet Belgorod wurden Menschen mit Drohnen beschossen. Der Gouverneur des Gebietes, Wjatscheslaw Gladkow, berichtet auf seinem Telegram-Kanal von vier Personen, die an einem Tag von ukrainischen Drohnen verletzt worden seien. Belgorod liegt 80 Kilometer von Charkiw entfernt auf der russischen Seite der Grenze.
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