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Festival Music Week Poland in WarschauRein in die Trance, raus aus der Trance

Folk, Elektronik und Pop ist beim Festival Music Week Poland in Warschau zu erleben. Es bringt Ost und West näher zusammen.

Gefühlvoll am Saxofon: Miłosz Pieczonka von der jungen Jazzband Kosmonauci Foto: Justyna Kamińska

Am Morgen strahlt die Sonne auf die Spitze des Kulturpalasts im Warschauer Stadtzentrum. Geschäftsleute eilen mit Matcha-Plastikbechern durch die breiten Straßen der City. Unter den gewaltigen Säulen des sozialistischen Kolosses haben Obdachlose provisorische Schlafplätze errichtet. Neben dem Eingang zur Metro verkaufen alte Frauen Blumen und Selbstgestricktes, während aus dem Hauptbahnhof Tou­ris­t*in­nen herausströmen und Sprachen sich vermischen. Einst von Stalin als Geschenk für Polen initiiert, war der Kulturpalast von den Be­woh­ne­r*in­nen Warschaus als Machtsymbol der sowjetischen Diktatur verhasst.

Heute ist der Platz vor ihm ein Ort, der die Widersprüche der polnischen Hauptstadt zusammenbringt. Moderne Hochhaustürme treffen auf stalinistische Zuckerbäckerarchitektur, Wohlstand auf Ausgrenzung, Tou­ris­t*in­nen auf Einheimische, junge auf alte Menschen.

Wo beginnen, wer diese Metropole verstehen will? Ein Weg, Warschau zu lesen, führt durch ihre musikalischen Zwischentöne. Eine Alternative zu den geschichtsträchtigen Monumenten bietet sich am Abend im Museum der Geschichte Polens, zwischen Zitadelle und Weichselufer gelegen. Hier steigt der Auftakt zur Music Week Poland, einem neu ins Leben gerufenen Showcasefestival, das polnischen Pop und den aus anderen Ländern Osteuropas in den Fokus stellt und mittels eines internationalen Kulturaustauschs gezielt fördert.

Auftakt mit Folkband

Zum Auftakt spielt die Warsaw Village Band, auf Polnisch Kapela ze Wsi Warszawa. Gemeinsam mit anderen Mu­si­ke­r*in­nen der lokalen Musikszene führt die seit 28 Jahren bestehende Folkband, die bereits in Japan spielte, durch den Abend. Mal mit der legendären Punkband Dezerter, mal mit der jungen Jazzband Błoto, deren Improvisation im Hyper-Pop mündet.

Der Abend schließt nach drei intensiven Stunden mit einem Set von DJ Zamilska. Mal klingen die Stimmen der Sängerinnen flüsternd wie Waldfeen, dann mithilfe der traditionellen Biały głos-Gesangstechnik aufbrausend und rau.

Es ist kein Easy-Listening-Konzert, die Musik erfordert Konzentration und Offenheit, sich auf ungewohnte Klänge einzulassen. Das Publikum in Warschau ist dafür bereit, wippt mit, headbangt, schließt die Augen.

Der erste Festivaltag startet mit dem Konferenzteil, ebenfalls im Museum der Geschichte Polens. In der Podiumsdiskussion „The Role of Artists and Cultural Institutions in Shaping Ethical Choices in a Politicised World“ geht es etwa um den kulturellen Imperialismus Russlands und die ethische Verantwortung der Musikbranche.

Hier äußert sich Luiza Moroz, ehemalige Mitarbeiterin des ukrainischen Kulturministeriums, die heute als Beraterin beim Netzwerk Culture Action Europe arbeitet. Sie spricht über die individuelle Verantwortung russischer Kulturschaffender im Kontext von Krieg und politischer Aggression. Bezogen auf das Konzept der kollektiven Schuld fordert sie von diesen Künst­le­r*in­nen eine kritischere Auseinandersetzung mit der kolonialistischen Prägung der russischen Kultur, die über bloße Lippenbekenntnisse herausgeht.

Polarisierung im Land

Politische Entwicklungen in Polen werden in den Diskussionsrunden vorsichtig thematisiert. Der knappe Wahlsieg des rechtskonservative Kandidat Karol Nawrocki bei den Präsidentschaftswahlen verschärft die Polarisierung im Land. „Wir machen uns Sorgen“, sagt Miłosz Pieczonka, Saxofonist der jungen Jazzband Kosmonauci, im Gespräch mit der taz. „Aber es war nur die Wahl zum Präsidenten. In ein paar Jahren, wenn eine neue Regierung gewählt wird, könnte sich noch viel mehr ändern.“

Einige Bands des Festivals äußern sich explizit, wie die queere Soundkünstlerin Mala Herba. Inmitten der Polykrisen möchte sie einen sicheren Raum schaffen. Sowohl bei der Konferenz als auch auf den Konzerten wird deutlich: Die Music Week Poland fördert Gemeinschaft und Austausch über Landesgrenzen hinaus.

So spielen Acts aus Finnland, Spanien und Belgien. Der Fokus liegt jedoch auf Künst­le­r*in­nen aus Polen, der Ukraine und Belarus. Das Festival baut Brücken zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen und Genres, zwischen Ost und West.

Luftig und geschmeidig

Am Donnerstag beginnt das Showcase-Programm, unweit des Kulturpalasts im Club Palladium. Die siebenköpfige Band Klawo aus Gdańsk bietet eine Mischung aus LoFi-Indie, Jazz, HipHop und Psychedelia. Mit luftigen, beinahe meditativen Kompositionen für Trompete, Perkussions und Querflöte ebnen sie geschmeidig den Einstieg in ein Partywochenende. Ihre Kompositionen sind funky, der Gesang von Sängerin Alicja Sobstyl soulful-warm. Am Ende hüpft die Band gemeinsam zu „2hot2funk“ auf der Bühne.

Durch die breiten Straßen des Bezirks Śródmieście, mit seinen schicken Restaurants und Neonlichtern, Altbauten und 60er-Jahre-Wohnhäusern geht es weiter durch die Warschauer Nacht. Der Freitagabend beginnt im Klub Niebo.

Schon von weit her hört man den Bass, der alles zum Beben bringt. Im geräumigen Hauptsaal spielt das Trio Sw@da x Niczos, ein Quartett aus drei Folk-Sängerinnen und einem DJ mit kolumbianischen Wurzeln aus Bielsk im Osten Polens an der Grenze zu Belarus.

Ihren bekanntesten Song „Lusterka“ tragen sie im Dialekt der Region Podlachien vor, die nahe der Grenze liegt. Das klingt außergewöhnlich, vor allem von der älteren Bevölkerungsgruppe Podlachiens benutzt. Das Publikum reagiert mit ausgelassenen Tänzen, imitiert sogar die Performance auf der Bühne. Zwischen folkigem Sprechgesang, düsteren Beats und synchronen Tanzeinlagen entsteht ein bemerkenswerter Sound, der in seiner Mischung einzigartig klingt.

Songs zum Mitmachen

Im kleineren Raum im Niebo spielt die polnische Künstlerin Duxius alias Edyta Rogowska-Żak, die in Berlin lebt. Überzeugend ist ihre Bühnenpräsenz, wenn sie einen Hüftschwung macht und intensiven Augenkontakt mit dem Publikum sucht. Sie stimmt den Song „I don’t believe in Peace“ an, der von der jüngsten Weltlage beeinflusst ist.

Als Polish Future Retro bezeichnet sie ihren Sound, der zu gleichen Teilen von Pop, Funk und Elektronik beeinflusst ist. Das Publikum schwoft mit und zeigt sich angetan von Rogowska-Żaks „Mitmach-Songs“, wie sie auf Deutsch die Songs nennt, bei denen das Publikum mitsingen kann.

Im Club Oczki wird der Abend beschlossen. Es spielen Kosmonauci, die gehypteste Band des Festivals. Trotz Slot um 1 Uhr nachts ist der große Raum gefüllt. Aufgrund einer technischen Panne muss sie akustisch spielen. Dennoch zieht der Sound das Publikum in schummrige Euphorie.

Besonders beeindruckt das leichtfüßige Spiel von Timon Kosma am Vibrafon. Ebenso dynamisch wie gefühlvoll, beinahe hypnotisch führt die junge Band durch ihr Set mit Soli an Saxofon, Vibrafon und Drums, bis das Putzlicht das Publikum aus seiner Trance weckt.

Akustisches Spiegelbild Warschaus

Die Bilanz nach vier höchst vielfältigen mitreißenden Abenden: Music Week Poland ist ein akustisches Spiegelbild Warschaus, das ebenso geheimnisvoll und kontrastreich wie die Stadt selbst auf Be­su­che­r*in­nen wirkt. Bislang ist sie noch Geheimtipp. Die vielen jungen Bands schaffen durch ihre Sprache und Mut zum Ungewöhnlichen neue Klangfarben.

Am Samstagabend, auf dem Vorplatz des Kulturpalastes, der nun blau-rot angestrahlt wird, ziehen Jugendliche vorbei. Einer provoziert auf Englisch: „Ich hasse LGBT.“ Ein Satz, der nachhallt. Der aber auch zeigt, wie wichtig die Arbeit der Music Week Poland und ihrer Künst­le­r*in­nen ist. Mit deren vielfältigen Stimmen, Perspektiven und Herkünften wirkt Warschau noch lebendiger.

Die Recherche zu diesem Text wurde von der Music Week Poland unterstützt.

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