Recht auf Sterbehilfe in Großbritannien: Durchbruch für die Selbstbestimmung
Auf Initiative der Schwester der 2016 vor dem Brexit-Referendum ermordeten Abgeordneten Jo Cox stimmte das britische Unterhaus am Freitag deutlich für das Recht auf Sterbehilfe.

Dem „Private Members Bill“, einem Gesetzesantrag, der nicht aus den Reihen der gegenwärtigen Labour-Regierung kam, sondern der privaten Initiative der Labour-Hinterbänklerin Kim Leadbeater – sie ist die Schwester der 2016 vor dem Brexit-Referendum ermordeten Abgeordneten Jo Cox – entsprang, stimmten insgesamt 313 Parlamentarier zu, 291 votierten dagegen. Damit versammelten sich 33 Abgeordnete weniger hinter dem Gesetz als noch bei der ersten Abstimmung im Herbst.
Beobachter:innen verglichen die Wahl am Freitag mit der Verabschiedung des Abtreibungsgesetzes oder mit der Abschaffung der Todesstrafe und der Illegalität von Homosexualität.
Obwohl alle Abgeordneten offen nach eigenem Gewissen statt nach Fraktion abstimmen durften, sprachen sich insbesondere Labour-Abgeordnete für das Gesetz aus, inklusive Premierminister Keir Starmer. Während die meisten Tories, darunter auch Oppositionsführerin Kemi Badenoch, dagegen waren.
Interessanterweise lehnte ausgerechnet Labours Gesundheitsminister Wes Streeting das Gesetz ab, einer von sechs Mitgliedern des Labour-Kabinetts, die dies taten. Die Abstimmung folgte einer Prüfung des Gesetzesvorschlags durch das House of Lords, das britische Oberhaus, und durch einen Unterhausausschuss, der ihn Wort für Wort prüfte, was zu zahlreichen Abänderungen und Ergänzungen führte.
Abgestimmt wurde am Freitag über die Ermöglichung der Sterbehilfe einzig und allein für volljährige Menschen, deren Sterben binnen eines Zeitraums von sechs Monaten prognostiziert ist. Damit soll diesem Personenkreis das Recht auf Selbstbestimmung gegeben und unnötiges Leid vermieden werden. Wer die Sterbehilfe in England und Wales beantragen will, muss mindestens ein Jahr bei einem britischen Hausarzt registriert sein. Die Antragsteller müssen eine klare, eindeutige Erklärung frei von Erpressung oder äußeren Druck abgeben, heißt es im Gesetzestext.
Diese Erklärung muss zweimal und separat vor Zeug:innen geschehen. Zwei Ärzte müssen ihr zustimmen, ebenfalls unabhängig voneinander und mit einem Mindestzeitabstand von sieben Tagen zwischen den zwei Erklärungsabgaben. Sollten Zweifel zur Zurechnungsfähigkeit der Antragssteller bestehen, muss ein psychiatrisches Gutachten angefordert werden. Dem Antrag muss letztendlich ein multidisziplinäres Gremium aus rechtlichen und psychiatrischen Expert:innen und einer/m Sozialarbeiter*in, unter Vorsitz eines Richters, zugestimmt werden.
Nach der Zustimmung zu einem solchen Sterbehilfeantrag kann diese frühestens nach Ablauf von 14 weiteren Tagen implementiert werden, im Beisein einer ärztlichen Kraft mit der dafür ausreichenden Ausbildung. Die Arznei muss die betroffene Person sich selbst verabreichen. Welche Arznei dafür infrage kommt, wurde nicht festgelegt. Gesundheitsexpert:innen, Ärzt:innen, Psychiater:innen, Sozialarbeiter:innen, Rechtsberater:innen und andere sollen über ihre Teilnahme oder Nichtteilnahme an der Sterbehilfe selbst entscheiden können und nicht dazu gezwungen werden.
Noch muss der Gesetzesvorschlag ein weiteres Mal durch das House of Lords geprüft werden. Abänderungen sind weiter möglich, nicht zuletzt, weil Gesetzesgegner:innen oder -skeptiker:innen versuchen wollen, weitere Sicherheitsvorkehrungen einzubauen. Theoretisch könnten sie den Prozess mit unendlichen Änderungsanträgen sogar derart hinauszögern, dass er scheitern könnte. Allerdings soll im britischen Parlament der nicht vom Volk gewählte Teil, also das House of Lords, nicht den Willen des gewählten Unterhauses brechen.
Bei Änderungen muss der Gesetzesentwurf unter Umständen auch noch mal durchs House of Commons, generell aber wird angenommen, dass das Gesetz mit der Entscheidung vom Freitag so gut wie verabschiedet ist, auch wenn sich die letztendliche Form noch ändern könnte.
Bis das Gesetz Realität wird, kann es also noch dauern. Gerechnet wird damit, dass es frühestens im Herbst in Kraft treten wird. Womöglich wird danach weitere Zeit vergehen, bis überhaupt die notwendige Infrastruktur zur sicheren Implementierung der Sterbehilfe geschaffen worden ist. Die Regierung hat dafür eine Frist von spätestens vier Jahren gesetzt. Palliative und psychiatrische Dachvereine waren einige der Stimmen, die davor gewarnt hatten, dass derzeit für diese Leistung noch keine ausreichende Kapazität bestehe.
Bei den Abgeordneten, die sich während der Gesetzesdebatte im Unterhaus gegen die Sterbehilfe aussprachen, bestand größtenteils keine generelle Stellung gegen das Anliegen, sondern eher eine Besorgnis über mangelnde Absicherungen und Kapazitäten. Labour-Hinterbänklerin Naz Shah sah dies insbesondere für Menschen mit Magersucht gegeben, da diese sich in einen Zustand bringen könnten, bei der ihre Lebenserwartung auf sechs Monate schrumpfe, obwohl mit ausreichender Hilfe diese weit über diesen Zeitraum hinaus gehen könnte.
Auch Diane Abbott, die sogenannte Mutter des Hauses, also die dienstälteste Abgeordnete, äußerte sich gegen das Sterbehilfegesetz. Sie sei in die Politik gegangen, um stimmlosen Menschen eine Stimme zu geben. „Wer hat weniger Stimme als Personen im Krankenbett, die glauben, dass sie sterben?“, fragte sie und fügte hinzu, dass unter jenen, die durch die Sterbehilfe ihr Leben verlieren könnten, die Verletzlichsten und Marginalisiertesten der Gesellschaft sein könnten.
Nicht nur Abbott, sondern auch Vertreter:innen von Menschen mit schweren Behinderungen geben zu bedenken, dass ohne weitverbreitete hervorragende palliative Einrichtungen, nicht wirklich eine richtige Wahl zwischen palliativer Versorgung bis zum Lebensende und einem früheren Lebensende mit Sterbehilfe möglich sei.
Der konservative Abgeordnete James Cleverly gab an, dass Patient:innen womöglich die Annahme einer Erwartung des medizinischen Personals spüren könnten, welche ihre Entscheidung beeinflusse, während derzeit medizinisches Personal nur für Lebensbewahrung stehe.
Der Labour-Abgeordnete David Burton-Sampson ist aufgrund seines christlichen Glaubens eigentlich gegen die Sterbehilfe. Er stimmte dennoch dafür, nachdem er von betroffenen Personen aus seinem Wahlkreis angeschrieben wurde. Darunter von einer Frau namens Emma, ebenfalls ursprünglich keine Sterbehilfe-Befürworterin, deren krebskranke Mutter Cheryl jedoch einen derart qualvollen Tod erleiden musste, dass sie ihn bat, dass Sterbehilfe zukünftig möglich sein müsse. Er tue das im Interesse vieler, die er vertrete, so Burton-Sampson. Viele Abgeordnete wiederholten derartige Beispiele.
Nach der Abstimmung sagte Kim Leadbeater gegenüber der BBC, sie sei „over the moon“, weil sie wisse, was die Billigung des Gesetzesvorschlags für todkranke Menschen und ihre Angehörigen bedeute. Als die Entscheidung fiel, waren vor dem Westminster Parlament hunderte Vertreter:innen beider Seiten versammelt. Während einige Betroffene und ihre Angehörige sich erleichtert gaben, erklärten andere, dass man noch auf Änderungen hoffe. Schottland und Nordirland gehen durch eigene legislative Prozesse zur Sterbehilfe. Die Entscheidung von Freitag ist jedoch auch für diese britischen Nationen zumindest richtungsweisend.
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