Laurent Binets Krimi „Perspektiven“: Ein ermordeter Maler und freche Fakten
Die Medici, ein Ermittler und die Intrige einer französischen Königin: die Spannung zwischen Historischem und Fiktiven macht dieses Buch so reizvoll.
Man schreibt das Jahr 1557. Der Maler Jacopo da Pontormo wird tot neben seinem unvollendeten letzten Werk aufgefunden, den Fresken in der Florentiner Kirche San Lorenzo. Erstochen mit seinem eigenen Meißel, erschlagen mit seinem eigenen Hammer. Warum? Und von wem? Giorgio Vasari macht sich auf die Suche nach potenziellen Tätern oder Täterinnen und ihren Motiven …
Der in diesem Roman als Ermittler fungiert, ist eine fiktive Version des echt gelebt habenden Giorgio Vasari, seines Zeichens Architekt, Künstler und wichtigster zeitgenössischer Chronist der italienischen Renaissance. Bei Laurent Binet wird er außerdem zum Chronisten dieses frei erfundenen historischen Mordes; denn Binets Roman ist ein Briefroman.
Außer Vasari und verschiedenen Künstlerkollegen, mit denen er korrespondiert, treten als BriefschreiberInnen Familienmitglieder der Medici und weitere ZeitgenossInnen auf, denn neben der Mordermittlung durchzieht ein weiterer wichtiger Handlungsstrang den Roman: eine Intrige der französischen Königin Catherine de Médicis gegen ihren Cousin Cosimo Medici, dem sie seine Machtstellung in Florenz neidet. Unschuldiges Opfer dieser Intrige wird jedoch Cosimos liebreizende siebzehnjährige Tochter Maria sein.
Zwei Verbrechen also, und keines davon, so viel darf verraten werden, wird letztlich gesühnt, auch wenn der Mörder Pontormos am Ende gesteht. Laurent Binet, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch studierter Historiker ist, hat mit „Perspektiven“ ein formal gewitztes kriminalistisches Gedankenexperiment entworfen und zu einem über den Dingen stehenden pseudohistorischen Roman verdichtet.
Laurent Binet: „Perspektiven“. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025, 304 Seiten, 26 Euro
Zwei Verbrechen, keines wird gelöst
Pseudohistorisch auch insofern, als die Briefschreiber umstandslos in heutiger Umgangssprache formulieren (es ist anzunehmen, dass die amüsant zu lesende Übersetzung von Kristian Wachinger darin dem Original folgt). Ansonsten aber geht der Roman weitgehend korrekt mit Daten und Fakten um. Ein Seitenspaß für kunsthistorisch Interessierte sind die ästhetischen Auseinandersetzungen, die zur Zeit des florentinischen Manierismus die Künstlerszene beschäftigten und die Binet deutlich herausstellt.
Unter den Fresken, die der ermordete Pontormo nicht mehr vollenden konnte, ist nämlich auch eine (berühmt gewordene) Darstellung der Sintflut, auf der ein Haufen toter Menschenkörper in so erbärmlicher Nacktheit gemalt ist, dass diese Drastik dem prüden Zeitgeist zuwiderlaufen musste. Nicht nur die frömmelnde Fürstin Medici, sondern auch Pontormos Biograf Vasari hat an dessen Kunst und Lebensweise viel auszusetzen.
Als Gegenpole treten die Künstlerkollegen Cellini und Michelangelo auf: Cellini, ein (historisch verbürgter) notorischer Gewalttäter, fungiert im Roman als williger Gehilfe der intriganten Königin Frankreichs und geht dabei über Leichen. Der alte Michelangelo wiederum, der im fernen Rom mühsam an der Sixtinischen Kapelle werkelt, wird in seiner Korrespondenz mit Vasari von diesem wie ein weiser Ratgeber angesprochen – eine Rolle, die der Alte letztlich selbst ad absurdum führen wird.
Spannender Briefroman
Der Reiz des Romans liegt in der frechen Projektion von historischen Fakten und Personen in eine offensive Fiktion und in der Spannung zwischen beidem. Diese entfaltet sich über den Zusammenhang der Briefe, in der Kontrastierung zahlreicher unterschiedlicher Erzähl-„Perspektiven“. Um die Perspektive in der Malerei geht es hingegen eigentlich gar nicht, doch sehr überraschend hat sie ganz am Ende doch noch einen wirksamen Auftritt: als handlungssteuerndes und todbringendes Element.
Die Feststellung, dass dieser Roman als Ganzes hochgradig konstruiert daherkommt, die Künstlichkeit seines Handlungsaufbaus dabei ausstellend, ist nicht als Kritik zu werten, sondern als Anerkennung der künstlerischen Konsequenz des Autors. Denn genau damit beweist er einen absolut kongenialen Umgang mit seinem Gegenstand.
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