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Hauptstraßen gibt es fast überall. Der Fotograf André Lützen ist durchs Land gereist und hat sie besucht. Seine Bilder zeigen deutsche Normalität und schöne Skurrilitäten, erzählen aber auch von der Verödung der Innenstädte
Auf den ersten Blick wirkt das Foto unspektakulär. Eine hellgraue Hausfassade, daneben ein Metalltor in einer roten Backsteinmauer, im Hintergrund die Fachwerkwand des Nachbarhauses. Menschen fehlen, nichts bewegt sich.
Vor allem die Fläche vor der hellgrauen Wand – man mag sie gar nicht Vorgarten nennen – könnte hässlicher kaum sein. Schotter bedeckt den Boden. Drei mickrige Kugelgewächse, vielleicht Buchsbäume, wurden zwischen die Schottersteine gepflanzt, wohl in der Absicht, das Ganze aufzuhübschen. Das misslingt so gründlich, dass es schon wieder lustig ist. Auf den zweiten Blick erscheinen auch die Hauswände in ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit – hier der hellgraue grobe Putz, dort das Fachwerk – wie grafische Elemente. Genau darin liegt der Reiz des Fotos, das die Hauptstraße des Erfurter Ortsteils Möbisburg zeigt.
So oder so ähnlich kann man auf viele der Bilder schauen, die der Fotograf André Lützen für sein Projekt „Hauptstraße Deutschland“ zusammengestellt hat. Im Laufe von zwei Jahren, 2022 und 2023, ist er in alle Bundesländer gereist und hat verschiedenste Hauptstraßen fotografiert. Er besuchte größere Städte, aber vor allem kleinere Orte und Dörfer, die man nicht kennt. „Ich wollte in die Provinz. Achtzig Prozent dieses Landes sehen schließlich genau so aus“, sagt Lützen.
Hauptstraßen liegen üblicherweise zentral, sie tragen ihre Bedeutung schon im Namen. Auf vielen Bildern erscheinen die Straßen hingegen alles andere als wichtig. Etwa wenn eine Hauptstraße im sachsen-anhaltinischen Zörbig-Löbersdorf mitten im Nirgendwo endet, zwischen Feldern und Strommasten. Viele der Hauptstraßen auch in den größeren Orten wirken auf den Fotos zudem verwaist.
Man könnte das für Konzept halten. Nicht die Menschen stehen im Vordergrund der Fotoarbeit, die Straße selbst soll Protagonistin sein. Das ist aber zu sehr um die Ecke gedacht. André Lützen erzählt, dass ihm auf den Hauptstraßen tatsächlich nur wenige Menschen begegnet seien. „Vieles, was an den Hauptstraßen vor fünfzig Jahren gewesen ist, Bäcker, Schuster, Metzger, gibt es nicht mehr.“ Zum Einkaufen fahren die Menschen in die Supermärkte und Einkaufszentren in der Peripherie. Die Verödung der Innenstädte, sie zeigt sich auch auf Lützens Bildern.
Statt Leben auf der Straße sieht man Hecken, Zäune, Mauern und zugezogene Gardinen. Orte der Begegnung sind verschwunden, es dominiert der private Wohnraum. Der will geschützt werden vor Eindringlingen und auch vor fremden Blicken.
So wirken auch einige der Bilder abweisend. Trist sind sie deshalb nicht. André Lützen wählt die Ausschnitte so, dass Hecken, Fassaden und Mauern wie komponiert erscheinen. Er inszeniert die Normalität.
Beim genaueren Hinsehen entdeckt man zudem kuriose Details. Steht auf der Terrasse des gelben Hauses mit den herunter gelassenen Rollläden etwa ein schwarz-weißer Pitbull, breitbeinig und zum Kampf bereit? Das habe er vor Ort auch erst gedacht, erzählt Lützen. Das Tier war dann aber doch aus Porzellan. Antje Lang-Lendorff
Die Ausstellung „Hauptstraße Deutschland. Fotografien von André Lützen“ ist bis zum 13. 10. im Altonaer Museum in Hamburg zu sehen.
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