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Mehr Ehrlichkeit, mehr Einwanderung

Nicht Populismus löst den Arbeitskräftemangel der deutschen Wirtschaft, sondern nur eine auf Zahlen und Fakten basierende Strategie, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, im Interview

Debatte mit Unschärfe: Nicht alle wollen anerkennen, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland ist Foto: Jochen Tack/imageBROKER/ picture alliance

Interview Dierk Jensen

taz: Abseits der politischen Moral: Ist die aktuelle Migrationsdebatte aus volkswirtschaftlicher Sicht für die deutsche Konjunktur kontraproduktiv?

Marcel Fratzscher: Ja, wir haben eine völlig falsche Debatte, bei der sich das Narrativ durchgesetzt hat, Zuwanderung nach Deutschland sei schädlich, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wirtschaftlich. Diese Aussage ist grundfalsch. Wir brauchen Zuwanderung, ohne werden wir einen erheblichen Teil unseres Wohlstands einbüßen.

taz: Derweil werden die Deutschen immer älter und die Lücken auf dem Arbeitsmarkt immer größer …

Fratzscher: Genau, daher müssen wir auch die einheimischen Potenziale besser nutzen. Erstens: Mehr Frauen in die Erwerbstätigkeit. Zweitens: Den 3,2 Millionen Schutzsuchenden die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern. Das ist jedoch nur die eine Seite, die andere ist, dass wir in Zukunft noch viel stärker auf Zuwanderung angewiesen sind, übrigens auch von Geringqualifizierten, nicht nur von Ingenieuren.

taz: Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit besagt, dass die Beschäftigungsquote der syrischen Männer höher ist als die von deutschen Männern. Woran liegt es, dass sich die öffentliche Wahrnehmung dazu diametral verhält?

Fratzscher: Ja, leider haben die AfD und die Populisten den öffentlichen Diskurs um die Migration bisher gewonnen. Deren Narrativ, „die sind alle faul, viele wollen überhaupt nicht arbeiten“, nimmt Raum ein. Allerdings stimmt das nicht. Die zweite Fehlwahrnehmung ist, dass nur top verdienende Migranten gut seien, weil sie viel Steuern zahlen. Ein Irrglaube. Zumal auch ein Deutscher, der zu Mindestlöhnen arbeitet, für die Wirtschaft wichtig ist.

taz: Sie haben vor Kurzem gefordert, dass jährlich 400.000 ausländische Menschen „in gute Arbeit in Deutschland zu bringen“ seien, um die Volkswirtschaft zu stabilisieren. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Fratzscher: Wir werden in den nächsten zehn Jahren knapp fünf Millionen mehr Babyboomer haben, die in Rente gehen, als junge Menschen nachkommen. Allein durch diese demografische Entwicklung gehen jedes Jahr 500.000 Beschäftigte dem Arbeitsmarkt netto „verloren“. Wir benötigen in Zukunft eine jährliche Nettozuwanderung von rund 400.000 Beschäftigten, wie eine Berechnung der Bundesagentur für Arbeit ermittelt hat. Dies heißt realistisch, dass wir eine Einwanderungspolitik brauchen, die sich in Richtung 900.000 bis hin zu einer Million Nettozuwanderung pro Jahr bewegt. Das wird sicherlich nicht passieren und wäre auch eine gigantische logistische Herausforderung. Aber diese Zahlen zeigen, wie groß das Arbeitskräfteproblem ist und wie schädlich es für unseren Wohlstand sein wird.

taz: Diese Zahlen können einem Herrn Dobrindt doch nicht entgangen sein …

Fratzscher: Diese Zahlen kennt auch der Bundesinnenminister. Aber es geht in der aktuellen Migrationsdebatte nicht um wirtschaftliche Faktoren, sondern um die Frage, ob wir überhaupt ein Einwanderungsland sein wollen und was es eigentlich heißt, deutsch zu sein. Es ist schon sehr offensichtlich, wie sich manche in Politik und Gesellschaft äußern, dabei stehen die wirtschaftlichen Faktoren im Hintergrund.

taz: Können Sie ein bürokratisches Hindernis benennen, das die Integration von Geflohenen in den deutschen Arbeitsmarkt erschwert?

Fratzscher: Nicht erst ein halbes Jahr oder ein ganzes Jahr warten, bis die Menschen gewisse Prozesse wie die Anforderungen von Sprachkenntnissen durchlaufen haben.

In Zukunft sind wir noch viel stärker auf Zuwanderung angewiesen

taz: Oft wird von Fachkräftemangel gesprochen, doch einen Arbeitskräftemangel gibt es in allen Spektren der deutschen Volkswirtschaft. Wieso verengt sich die Diskussion auf die Fachkräfte?

Fratzscher: Ja, auch das ist Ergebnis einer falschen Deutung: Nur ein Topverdiener, ein Spitzenverdiener, sei ein guter „Immigrant“. Und das ist eben falsch. Auch jemand, der in der Gastronomie, im Supermarkt oder auf dem Bau arbeitet, wird benötigt und schafft einen positiven Beitrag zur Gesellschaft. Und in Pflege und Gesundheit wären wir ohne ausländische Fachkräfte schon längst dem Kollaps nahe.

taz: Was muss passieren, damit Einwanderung und Arbeitsmarkt wieder zusammenkommen?

Fratzscher: Mehr Ehrlichkeit. Leider haben die Populisten diese Debatte gewonnen – bisher. Wir brauchen aber eine Ehrlichkeit mit Zahlen, mit belastbaren Fakten. Und Fakt ist, dass Deutschlands größte wirtschaftliche Bedrohung schon heute fehlende Arbeitskräfte sind. Wir brauchen Menschen mit allen Qualifikationsstufen. Wir brauchen Menschen, die nach Deutschland kommen und hier ihr Zuhause finden wollen. Und die Verantwortung für eine erfolgreiche Integration liegt nicht nur bei den Migranten, sondern bei als Gesellschaft. Wir müssen vor allem unsere Willkommenskultur verbessern, sodass diese Menschen gerne kommen und auch bleiben. Denn im Augenblick haben wir die schlechteste aller Welten.

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