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MinimalismusKann das nicht alles weg?

Zungentattoo, Krawatte, Kindermütze: Unsere Kolumnistin wirft nicht gerne weg, auf Minimalismus hat sie keine Lust. Jetzt übt sie das Wegwerfen.

Tipp zum Ausmisten: alle Kleiderbügel einmal umzudrehen. Erst nachdem ein Kleidungsstück getragen wurde, dreht man den Bügel zurück

I ch liege im Bett und gucke auf gelbe Plastiksäcke. Darin eingesperrt meine Wollpullover, Socken, Schals und die Hoffnung, dass sich die Motten nicht weiter durch meinen Kleiderschrank fressen.

Kreativität braucht ein bisschen Chaos, rechtfertige ich meine vollgestopfte Kommode vor mir selbst. Das eingelaufene Top kann noch ein Stirnband werden und Clean Chic ist eh etwas für Uninspirierte. Die ollen Leggings und verwaschenen Shirts? Brauche ich für die nächste Streichaktion. Auch wenn das erst in zwei Jahren sein wird, ich bin gewappnet.

Bei dem Blick auf die Müllsäcke frage ich mich aber, ob mein Argwohn gegenüber Mi­ni­ma­lis­t:in­nen übertrieben ist. Hätte ich weniger Klamotten und mehr Überblick, hätte sich die Motten womöglich nicht so wohl gefühlt.

Ich scrolle durch Instagram und suche nach Tipps zum Ausmisten für Anfängerinnen. Eine Frau rät, alle Kleiderbügel einmal umzudrehen. Erst nachdem ein Kleidungsstück getragen wurde, dreht man den Bügel zurück. So erkennt man, welche Teile man nach einem Jahr immer noch nicht anhatte und kann sie weggeben. Ich will mutiger sein, als das Ausmisten auf nächstes Jahr zu vertagen, und lande bei der nächsten Influencerin. Sie rät, sich jeden Tag von einer Sache zu trennen. Keine stundenlange Ausmistaktion, kein großer Abschiedsschmerz. Also los.

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Im Flur laufe ich an einer Packung Zungentattoos vorbei, kleine runde Esspapierblättchen mit Fledermäusen und Haien drauf, die auf der Zunge ein Bild hinterlassen. Ich habe sie mal auf einer Party rausgeholt, wie bei einem Kindergeburtstag wollten sie alle probieren. Dann zeigten wir uns unsere Zungen. Der Abschied von den bunten Blättchen fällt mir schwer.

Minimalismus verbinde ich mit akribisch aufgereihten Bleistiften, mit sterilweißen Zimmern, in denen zwar nur eine Matratze liegt, aber ja so viel Raum zum Denken ist, und mit esoterischen Sprüchen wie: „Das Glück liegt ins uns, nicht in den Dingen.“ Klar, aber hat der Gründer des Buddhismus und Zitatgeber schon mal einen kleinen Hai auf seine Zunge geklebt? Für mich sind es die kleinen Dinge im Leben.

Weg mit der bestickten Bluse aus 2014, die mich an den Kleidungsstil von Tradwives erinnert

Am nächsten Tag wage ich einen Blick in die oberste Schublade meines Schranks, die einer Schatzkiste ähnelt: eine gemusterte Krawatte (wollte ich als Gürtel umfunktionieren), drei Tenniscaps (sehr unpraktisch, weil sie oben offen sind und der Kopf trotzdem verbrennt), eine Postbotenmütze für Babys (ein Flohmarktfund für das erste Baby im Freundeskreis, das nicht wirklich in Sichtweite ist). Es ist erst Tag zwei und diese fünf Dinge müssen gehen, wenn ich das Ausmisten ein bisschen ernst nehmen will.

Im Wandschrank finde ich die bollerige Schüssel aus dem Töpferkurs. Das Ding ist so unförmig, es taugt nicht mal als selbstgemachtes Notfallgeschenk. Weg damit. Dann halte ich eine schwarze Bluse mit roten Stickmustern in den Händen. Boho-Style von 2014, schätze ich. Weil ja alles irgendwann wiederkommt, habe ich die Bluse behalten. Jetzt erinnert sie mich an die Tradwives, die auf Social Media für ein konservatives Frauenbild werben und ihren Ehemännern Kuchen mit selbstgeschlagener Butter backen. Dank dieser Assoziation kann ich die Bluse problemlos weggeben.

An Tag fünf trifft mich eine Erkenntnis, als ich die Besteckschublade öffne. Ich finde einen Flaschenöffner wieder, der singt: „Berlin, du bist so wunderbar, Berlin“. Vielleicht habe ich gar nicht so viel Zeug, weil ich kreativ bin. Vielleicht stehe ich nur auf Kitsch.

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Sophie Fichtner
Redakteurin
Seit 2022 Redakteurin im Zukunftsteil der wochentaz, aktuell im Ressort Reportage und Recherche. Sie hat die Deutsche Journalistenschule in München besucht und Politikwissenschaften in Berlin und Lissabon mit Schwerpunkt auf Menschenrechten studiert.
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4 Kommentare

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  • Ach was! Loriot 💯💯

    “Vielleicht stehe ich nur auf Kitsch.“

    May be. But - vllt dafür denn doch zu jung?!=>



    “…Mama - is Opa K… ein Messi?“



    Anders als die knapp ältere Schwiegermutter2



    Meine kluge Tochter 1. Wurf:



    “Nö. Der issen Kriegskind - schmeißt ungern was weg, weil er denkt - er könne das noch mal brauchen!“. - 🙀🥳🧐🤣 -

    unterm—-btw



    Nachdem er ehrfürchtig den schönen braunen Flügel von 1864 Wiener Kaffeehausstil schlicht - gelauscht hatte - die 12sait Fender acu. ausprobiert - zog er neulich zu meiner handcrafted Konzertgit - mit ner von seinem stepOnkel (grad 28💐;) bei mir abgelegten Gibson SG (Frank Zappas Lieblingsgit) ab -



    Schwester🥰 an der Strat🎸+Marshall mal einheizen!;))



    Wir dürfen gespannt sein! Gell



    Zu recht •



    &



    —listen&enjoi with Mike Keneally stunt gitarist*



    Keneally- Beller Inca Roads by Frank Zappa



    www.youtube.com/watch?v=OAEmSPkhvqs



    * last time privat gig - 🚲 4 o‘clock in the dawn;)

  • Man muss nicht gleich dem Minimalismus verfallen. Es reicht völlig, sich weitestgehend diesem „Kapitalistenwahn" zu entziehen.

    Kapitalismus:



    Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, von Geld was wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht leiden können.

  • Oh, diesen Gedanken des: "da möchte ich noch xy draus basteln " der kommt mir sehr bekannt vor! Ich habe aber eher weniger Probleme, mich selbst von Dingen zu trennen, als einen neuen Platz für besagte Dinge zu finden. Wegschmeißen von funktionierenden Dingen finde ich nämlich auch kacke.

  • Kleiner Tip: Lavendel hilft gegen Motten, einfach ein kleines Stoffsäckchen mit Lavendel füllen und in den Kleiderschrank. Dann spart man sich auch den unglaublichen Aufwand, alle seine Klamotten in Plastiktüten zu packen ;)