: Die Stammheim-WG
Niki Stein und Stefan Aust inszenieren das Dokudrama „Stammheim – Zeit des Terrors“ als Kammerspiel. Den Prozessauftakt vor 50 Jahren nutzte die RAF zur Mobilisierung. Doch von den Gründen der Radikalisierung erfährt man wenig

Von Andreas Fanizadeh
Die Inhaftierung der Gründergeneration der Rote Armee Fraktion (RAF) nach deren „Mai-Offensive“ im Jahre 1972 bot der Gruppe jene Bühne, die sie zur weiteren Rekrutierung und Fortsetzung ihres Kampfes nutzte. Um den Gefängniskomplex von Stuttgart-Stammheim entstand der von der RAF und ihrem Umfeld verbreitete Mythos eines angeblich folternden, faschistischen BRD-Staates, der die Vernichtung der inhaftierten Linksextremisten anstrebe. Mit dem ersten Prozesstag am 21. Mai 1975 im eigens dafür geschaffenen Gerichtssaal von Stuttgart Stammheim inszenierten sich die Angeklagten aus der RAF popkulturell und wirkmächtig als Opfer der postfaschistischen Bundesrepublik. Ihre verbeamteten juristischen Widersacher schienen ihnen gegenüber wie hilflose Statisten aus einer vergangenen Epoche.
Fünfzig Jahre nach dem Prozessauftakt in Stammheim wartet die ARD nun mit dem Dokudrama „Stammheim – Zeit des Terrors“ auf. Es ist in gewisser Weise eine Fortsetzung des Spielfilms „Der Baader Meinhof Komplex“ (2008) Der sehenswerte Kinothriller von Bernd Eichinger und Uli Edel beleuchtet als Actiondrama Vor- und Frühphase, der aus der Revolte von 1967/68 hervorgegangenen westdeutschen Stadtguerilla. Das Dokudrama „Stammheim – Zeit des Terrors“ legt nun den Fokus auf das Leben der RAF-Führung – Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Ulrike Meinhof – im Gefängnis und deren Agieren vor Gericht Mitte der 1970er. Das Drehbuch schrieben Stefan Aust und Niki Stein, Letzterer zeichnet für die Regie verantwortlich.
Die filmische Erzählung gänzlich nach Stammheim zu verlegen, scheint zunächst eine dramaturgisch nachvollziehbare Positionierung. Denn für die weitere Eskalation hin zum „Deutschen Herbst“ 1977 war die Haltung der in Stammheim einsitzenden RAF-Führung von zentraler Bedeutung. Historische Dokumente sind für die filmische Interpretation zahlreich vorhanden. Briefe, Kassiber der Gefangenen, Protokolle, Berichte von Zeitzeugen sowie die Aufnahmen vom Prozess sind ausschnitthaft fiktionalisiert, verdichtet und gelegentlich mit historischen Originalaufnahmen montiert. Die so entstandene Collage von Leben und Kommunikation unter den Gefangenen mit ihren Anwälten oder den Beamten folgt in ihrer zugespitzten Interpretation weitgehend der historischen Überlieferung.
Belegt ist auch, dass die Gefangenen über einzelne Anwälte ihr Infosystem mit dem Umfeld draußen pflegten und dieses zu spektakulären Aktionen für ihre Freipressung drängten. Die Eskalation ging ab 1972 eindeutig vom Gefängnis aus, insbesondere nach dem Tod von Holger Meins im Hungerstreik von 1974.
Bei der zweiten großen Attentatsserie der RAF von 1975 bis 1977 ging es ausschließlich um die Haftbedingungen und die „Big Raushole“, die Befreiung der einsitzenden Gründergeneration. Die mit der RAF konkurrierende Bewegung 2. Juni hatte Anfang 1975 mit der Lorenz-Entführung in Berlin vorgemacht, wie man Gesinnungsfreunde erfolgreich freipresst. Eine Szene des Films zeigt, wie Andreas Baader (Henning Flüsloh) dies als Demütigung verstand.
Das Intro des Films präsentiert einen Bilderloop mit ikonischen Bildmotiven der 68er-Bewegung (Demos gegen den Schahbesuch, 2. Juni 1967, Benno Ohnesorg, US-Bürgerrechtsbewegung, Rudi Dutschke, Notstandsgesetze, HồChí Minh, Vietnam), um so den zeithistorischen Hintergrund zumindest anzudeuten, vor dem die RAF entstanden ist. Ein wenig historisches Wissen setzt „Stammheim – Zeit des Terrors“ zum Verständnis allerdings voraus. Anders etwa als Andres Veiel in dem Kinospielfilm „Wer wenn nicht wir“ (2011) bleibt das jetzige Dokudrama engmaschig bei den Ereignissen in Stuttgart-Stammheim, setzt dabei zu 100 Prozent auf eine theatral anmutende, dialogisch polarisierende Inszenierungsweise.
Unterlegt mit dem Song „Knockin’on Heaven’s Door“ von Bob Dylan schweben Ulrike Meinhof (Tatiana Nekrasov) und Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) in der Eingangsszene dieses Kammerspiels mit einem Hubschrauber in Stuttgart-Stammheim ein. Dort erwartet sie der fortan für sie zuständige leitende Vollzugsbeamte Horst Bubeck (Moritz Führmann).
„Frau Ensslin, bitte“, fordert Vollzugsbeamter Bubeck in dieser Spielszene die RAF-Terroristin Ensslin förmlich-korrekt zum Verlassen des Polizeibusses auf. Dabei zischt Ensslin noch hastig Meinhof, beide tragen modische Sonnenbrillen, beim Ausstieg zu: „Vergiss nicht, kein Wort zu den Pigs.“
Meinhof vergisst nicht. Zur Begrüßung geht sie auf einen Kameramann los und tritt „Arschloch“ Bubeck in die Körpermitte. Der Ton der RAF-Gefangenen gegenüber bürgerlicher Öffentlichkeit und Justiz ist hiermit auch filmisch gesetzt.
Der Jargon der RAF-Mitglieder war nach innen wie außen bewusst hart und vulgär. Es ging um Selbstvergewisserung und Abgrenzung. Aber auch um eine sektenhaft anmutende Erniedrigung und Hierarchisierung, dies macht „Stammheim – Zeit des Terrors“ recht schonungslos deutlich. Meinhof wurde von Ensslin und Baader gemobbt, gerade in der Phase vor ihrem Tod. Die ehemalige Konkret-Journalistin, Autorin von „Das Konzept Stadtguerilla“, suchte in Stammheim beim mitinhaftierten Cheftechniker der Gruppe, Jan-Carl Raspe (Rafael Stachowiak) Zuflucht und Verständnis.
Am 9. Mai 1976 fanden Justizbeamte Meinhof erhängt am Fenstergitter ihrer Zelle. Der Staat sprach von Suizid, zwei Obduktionen bestätigten dies. Die RAF sprach von Mord.
Um möglichst nah am Authentischen zu bleiben, wurden die szenischen Teile des Dokudramas am Originalschauplatz vor Ort im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stammheim gedreht. Der Film wird viele verblüffen, auch weil die brachialen, gewalttätig rohen und oftmals abgehackten Dialoge aus der Stammheimer Gefangenen-WG wie eine überdrehte Performance aus einer der heutigen realen Theaterbühnen erscheint.
Nach dem Abkippen in die unmittelbare Gewalt, den mörderischen Anschlägen antiimperialistischer Prägung wirkt die sich im Gefängnis aufbauende Gruppendynamik, der gesamte Habitus desperat, seltsam entrückt, artifiziell, psychotisch und narzisstisch.
Ein wenig Radical Chic und popkulturellen Glamour lässt das Filmdrama den Stammheimer Protagonisten jedoch noch. Ansonsten wäre die relativ schlichte charakterliche Ausgestaltung der Figuren trotz schauspielerisch überzeugender Besetzung auch kaum erträglich.
Die übersteigerte existentialistische Haltung, sämtliche Weltereignisse auf das eigene Ich und Tun zu projizieren, das macht „Stammheim – Zeit des Terrors“ sicherlich deutlich. Was Menschen wie Ensslin oder Baader dazu bewegte, 1968 Brände in Kaufhäusern zu legen, sich von palästinensischen Gruppen in Jordanien militärisch ausbilden zu lassen, um 1972 US-Einrichtungen, Polizeistationen, Richter oder den Springer-Konzern in der BRD anzugreifen, spart das Dokudrama aus. Wer den 1970er-Jahre-Hintergrund, die Verquickung des westdeutschen mit dem internationalen Terrorismus verstehen möchte, wäre mit Olivier Assayas Filmbiografie „Carlos der Schakal“ (2010) ungleich besser bedient.
Im Vordergrund steht bei Aust und Stein die Entmythologisierung der angeblich schikanösen Haft- und Prozessbedingungen. Frauen und Männer in einem Zellentrakt, gemeinsamer Umschluss, eigene Radiogeräte, Plattenspieler und private Lebensmittelwünsche, das war doch eher ungewöhnlich und stellt „Stammheim – Zeit des Terrors“ genüsslich in den Spielszenen dar. Der stets höflich und korrekt auftretende Vollzugsbeamte Horst Bubeck, „Arschloch“, verkörpert in der Filmhandlung indes die Antithese zu den RAF-Behauptungen des folternden Staates.
Nachdem sich im Oktober 1977 abzeichnete, dass die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie einer Lufthansa-Maschine nicht zu ihrer Freipressung führen würde, fand man am 18. Oktober Raspe, Ensslin und Baader tot in ihren Zellen. Viele Indizien deuteten auf einen kollektiven Selbstmord. Ob es staatlicher Mord war, darüber stritt die Linke jahrelang.
Mit der Nachricht des Scheiterns der Flugzeugentführung von Raspe an die Mitgefangenen – „Hört ihr mich, alles vorbei“ – fädelt dieser Film aus.
Ergänzend bietet die ARD zum Stammheimer Prozess-Jubiläum die kurze Dokumentation „Im Schatten der Mörder – Die unbekannten Opfer der RAF“. Hier erzählen Kinder von RAF-Opfern, wie die Ermordung ihrer Väter ihr Leben prägte.
Clais von Mirbach etwa äußert darin sein Unverständnis, dass die vier überlebenden und verurteilten RAF-Attentäter des Überfalls auf die Deutsche Botschaft 1975 in Stockholm bis heute schweigen. Wer waren die beiden RAF-Terroristen, fragt von Mirbach, die seinen Vater, Militärattaché Andreas von Mirbach, nach Verstreichen eines Ultimatums von hinten mit Schüssen exekutierten und noch lebend die Treppe herunterstießen?
Und Hanns-Eberhard Schleyer berichtet hier, wie er als Chef der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz und als Sohn eines von der RAF ermordeten Vaters positiv am Gnadengesuch eines früheren RAF-Mitglieds mitwirkte.
„Stammheim – Zeit des Terrors“, ab 17. Mai 2025 in der ARD Mediathek. Am 19. Mai um 20.15 Uhr im Ersten
„Im Schatten der Mörder – Die unbekannten Opfer der RAF“, ab 17. Mai 2025 in der ARD Mediathek. Am 19. Mai um 21.45 Uhr im Ersten
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