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Schach in DeutschlandDie Gegner einfach überrollt

Bei der deutschen Meisterschaft dominiert Vincent Keymer das Turnier. Er ist bereit für die Weltspitze.

Schachexpress im gelben Sakko: Vincent Keymer bei einem Grand-Slam-Turnier im Februar 2025 Foto: 54 Grad/imago

Vincent Keymer ist aktuell der einzige deutsche Schachspieler, der auf Augenhöhe mit der Weltspitze spielen kann. Nichtsdestotrotz war es durchaus riskant für ihn, an der deutschen Meisterschaft teilzunehmen: Schachturniere haben oft das Gepräge eines Pokalspiels.

Verliert der Favorit durch eine Verkettung unglücklicher Umstände, oder sei es nur, weil er einen schlechten Tag hat, unkonzentriert ist, sich zu siegessicher wähnt, dann verliert er derart viele Ratingpunkte, dass es ihn nicht nur das Spiel kostet, sondern eventuell auch den Anschluss an die Weltspitze. Heißt: das Recht, sich mit den Besten zu messen. Vincent Keymer hat trotzdem beschlossen, um die deutsche Schachmeisterschaft zu spielen, obwohl obendrein zeitgleich besser dotierte Turniere stattgefunden hätten.

Es kommt noch eines dazu. Im Schach ist es wie beim Bergsteigen: je höher man steigt, desto dünner die Luft. Genau deswegen konnte Vincent Keymer eigentlich nur verlieren in dieser deutschen Meisterschaft; die im Übrigen nur ausnahmsweise die Crème de la Crème des deutschen Schachs versammelte. Darunter aufstrebende Talente wie Leonardo Costa, zarte 17 Jahre alt, oder alte Haudegen wie David Wagner, und aber auch die Gebrüder Svane, beide in Rufweite zur Weltspitze.

Keymer hat gespielt, als wären die Nerven seines Gegners eine Balalaika.

Aber vor allem: Matthias Blübaum, der dieses Jahr Einzel-Europameister wurde und an guten Tagen jeden Topspieler vor unlösbare Probleme stellen kann. Diesmal bekam er die unlösbaren Probleme gestellt: Keymer saugte Blübaums König hinaus ins offene Feld und zwang ihn förmlich zu einem relativ simplen Rechenfehler, der Blübaum dann am Ende das Spiel kostete.Dass dieser sich derart hat ins Bockshorn jagen lassen, ist die eigentliche Botschaft: Vincent Keymer hat ihn auch psychologisch dominiert.

Zwei Spielrunden vor Schluss hat Keymer sie alle abgehängt, im letzten Spiel Matthias Blübaum ausgetrickst, als wären dessen Nerven eine Balalaika. Er steht bei 6,5 von 7 möglichen Punkten und hat jetzt das Turnier in einer Art dominiert, wie es sie in der Geschichte des deutschen Schachs selten gab. Noch vor dem Spiel gegen Blübaum sagte der deutsche Bundestrainer der Männer, Jan Gustafsson: „Er rollt wie ein Zug über diese Meisterschaft.“

Eine neue Schachspieler-Generation

Das allein wäre schon erstaunlich genug. Aber es ist nicht nur das: Er rollt wie ein Zug über das gesamte deutsche Schach. Und gerade weil er dieses Turnier derart dominiert (bisher konnte ihm nur David Wagner ein Unentschieden abtrotzen, alle anderen Partien hat er gewonnen, ohne dafür Glück zu brauchen) und er mit seinen Siegen zurück in die Top 20 der Weltrangliste gelangte und er obendrein erst 20 Jahre alt ist: da stellt sich die Frage: what’s next?

Es gibt aktuell eine ganze Generation junger Schachspieler, die knapp hinter Magnus Carlsen (dem vermutlich besten Schachspieler aller Zeiten) stehen: da wären vor allem Nodirbek Abdussatórov, Alireza Firouzja und das indische Dreigestirn Arjun Erigaisi, Praggnanandhaa und Gukesh, der amtierende Weltmeister. In der Zeit, in der jene ihren Weg in die Weltspitze vollendeten, machte Keymer gerade parallel zum Schachspiel sein Abitur. Erst seit knapp über einem Jahr ist er überhaupt Profi: und auch wenn er davor schon mit der Weltspitze mithalten konnte, kann er sie jetzt erst angreifen.

Das ist auch der Grund, warum die deutsche Meisterschaft dieses Jahr derart gut besetzt ist: durch eine Änderung im Reglement gibt es hier Punkte zu gewinnen, die dazu berechtigen könnten, im Turnier der Herausforderer für den nächsten Weltmeistertitel zu spielen.Die Souveränität, mit der Vincent Keymer gerade über seine Gegner hinüberrollt, zeigt auch seinen Ehrgeiz, ganz oben mitzurochieren.

Sein Ausnahmetalent hat er angesichts der international eher zweitklassigen Nachwuchsförderung schon gezeigt. Das heißt nicht, das es automatisch für mehr reicht. Aber möglich wäre es.

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