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Es weht ein bayerischer Wind

CSU-Innenminister Alexander Dobrindt steht für Law and Order. Das passt zu einem Trend, der Polizeibeamten immer mehr Befugnisse gibt.Nicht mehr nur im Freistaat

Don’t fuck (with) the police: Am ersten Mai halfen in Berlin auch bayerische Polizisten aus Foto: Fo­to:­Christian Mang/reuters

Aus München Özge İnan

Jeder weiß, wann eine Gefahr endet. Der Geisterfahrer findet die richtige Spur, das Kind legt die Schere aus der Hand, die Pilotin steuert das Flugzeug sicher durch Turbulenzen. Aber wann fängt eine Gefahr eigentlich an? Wenn das Kind die Schere in die Hand nimmt, der Geisterfahrer die Spuren verwechselt, das Flugzeug in die Luftströmungen fliegt? Schon früher? Erst später?

Im Polizeirecht hängt an dieser Frage alles. Die Polizei soll Gefahren abwehren, mit allen verhältnismäßigen Mitteln. Wenn die Voraussetzungen stimmen, dürfen Polizistinnen und Polizisten Menschen schlagen und treten, zu Boden zerren und fesseln, von Hunden beißen lassen, ihnen Schmerzen zufügen. Gefahr ist einer der entscheidenden Momente, die poli­zeiliches Handeln bis hin zu roher Gewalt legitimieren. Wenn sich beim polizeilichen Gefahrbegriff etwas tut, tut sich also etwas bei der Rechtfertigung von staatlich gebilligter Gewalt.

Und tun wird sich mit CSU-Bundesinnenminister Alexan­der Dobrindt einiges. Seine Partei preist den Oberbayern als „Law and Order“-Politiker. Parteichef Markus Söder hatte im Wahlkampf verlauten lassen: „Bayern ist das Gegenmodell zur Ampel“, den innenpolitischen Bundeskurs der CSU bezeichnete er als „Knallhart-Plan“. Doch bayerischer Wind weht schon länger durch die deutschen Polizeibehörden.

Mitte März sprach der Baye­rische Verfassungsgerichtshof ein vorläufig letztes Wort zum Polizeiaufgabengesetz (PAG) Bayerns. In diesem 2021 novellierten Gesetz steht in der sogenannten Generalklausel, die polizeiliches Handeln ohne Beschränkung auf eine bestimmte Maßnahme ermöglicht: Schon bei „drohender Gefahr“ dürfen die Beamtinnen und Beamten tätig werden. Doch was bedeutet das? Eine drohende Gefahr, also die theoretische Möglichkeit einer bedrohlichen Lage, lasse sich praktisch immer begründen, kritisierte im März etwa die Gesellschaft für Freiheitsrechte. Der Verein klagt strategisch gegen Gesetze, die Grundrechte unverhältnismäßig beschränken.

Mit einem Teil seines Urteils folgte der Bayerische Verfassungsgerichtshof dieser Argumentation. Tatsächlich sei der Begriff zu unbestimmt, um in jedem Fall polizeiliche Eingriffe zu rechtfertigen. Allerdings seien die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt, wenn „terroristische oder vergleichbare Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter“ zu befürchten sind. Diese Einschränkung steht nicht im Gesetz selbst, so müsse es aber ausgelegt werden.

Simón Barrera González ist Strafverteidiger und Dozent für Straf- und Polizeirecht in Würzburg. „Lange galt in allen Bundesländern, dass die Polizei erst eingreifen darf, wenn konkrete Gefahr vorliegt“, sagt er der taz. Konkrete Gefahr wird nach tatsächlichen Anhaltspunkten im Einzelfall beurteilt. „Drohend ist eine Gefahr ja schon weit vorher. Dass diese Schwelle ausreicht, wenn wichtigste Rechtsgüter bedroht sind, hat das Bundesverfassungsgericht 2016 entschieden.“

Stein des Anstoßes war eine Gesetzesnovelle zum Bundeskriminalamt im Jahr 2008, die bei Terrorverdacht quasi unbegrenzte technische Überwachung auch von Unbeteiligten erlaubte. Erstmals taucht dort die drohende Gefahr auf, 2016 von Karlsruhe abgesegnet. „Daraufhin haben viele Länder ihre Polizeigesetze verschärft, Bayern mit seinem PAG als erstes. Die Polizei kann seitdem schon früher eingreifen.“ Die Schwelle herabzusetzen, so der Anwalt, sei also keine Erfindung der Staatsregierung gewesen. Bayern habe den Rahmen ausgeschöpft, den das Bundesverfassungsgericht zuvor geschaffen habe.

Diese Vorverlagerung polizeilichen Handelns sei „generell und immer ein Problem“, sagt Anja Sommerfeld. Sie ist Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe, eines Rechtshilfevereins für linke Aktivistinnen und Aktivisten. Die spendenfinanzierte Organisation gibt Rechtsberatung, begleitet Prozesse und bietet finanzielle Unterstützung für Anwaltskosten. Werden Polizeigesetze ausgeweitet, bekommt auch der Verein es zu spüren, sagt Sommerfeld. „Die Menschen, die sich bundesweit an die Rote Hilfe wenden, sind in ihrem täglichen Leben, aber genauso bei Demonstrationen oder Protestaktionen betroffen“, sagt Sommerfeld. Von Klimakampf über antifaschistische Proteste bis zu Aktionen gegen das Patriarchat sei alles dabei. „Und immer sind die Menschen irgendwann mit der Polizei konfrontiert. Denn eine Auseinandersetzung mit den Verhältnissen kann nicht privat bleiben, sondern wird immer auch in der Öffentlichkeit ausgetragen.“

Drohende Gefahr, so Sommerfeld, heiße letztlich, dass „lediglich in der Theorie etwas Schlimmes passieren könnte“. Diese Einschätzung der Polizei könne nicht unmittelbar überprüft werden, selbst im Eilrechtsschutz kämen Verwaltungsgerichte oft zu spät: „Massive Grundrechtseingriffe sind dann bereits passiert.“

Auch Strafverteidiger González sieht das PAG kritisch, findet die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aber juristisch nicht zu beanstanden. Die Vorgabe aus Karlsruhe von 2016 sei nun einmal, dass drohende Gefahr in bestimmten Fällen ausreiche. „Politisch würde ich das auf jeden Fall kritisieren“, sagt der Anwalt. „Ich finde nicht, dass der Staat in der Sicherheitspolitik alles ausschöpfen sollte, was verfassungsrechtlich gerade noch geht.“

Die Rote Hilfe kritisiert das Urteil grundsätzlicher. „Zum Schutz der Grundrechte wäre eine konsequentere Entscheidung vom Verfassungsgerichtshof nötig gewesen“, sagt Anja Sommerfeld. „Die ‚konkrete Gefahr‘als Anknüpfungspunkt muss der Staatsgewalt ausreichen. Denn Auslegungsfragen und unsichere Rechtslagen nutzen immer der Polizei.“

Nicht nur Bayern hat sein Polizeigesetz in den vergangenen Jahren deutlich verschärft. Seit das bayerische PAG 2018 novelliert wurde, weiten Bundesländer immer wieder die Befugnisse der Polizei aus, etwa für die umstrittene Präventivhaft oder für technische Mittel wie Überwachung, Datensammlung, Gesichtserkennung. Schon als der Trend seinen Anfang nahm, stellte der Kriminologe Tobias Singelnstein eine „Militarisierung“ der Polizei fest und prognostizierte, dass andere Länder nachziehen würden: „Die Befugnisse gestatten der Polizei sehr weitreichende Maßnahmen unter vageren Voraussetzungen, die dementsprechend von den Gerichten schwerer kontrolliert werden können“, sagte Singelnstein 2018 in der taz. „Das sollte man im Auge behalten und sich als Gesellschaft überlegen, wie weit man bereit ist, zu gehen.“

Anja Sommerfeld, Rote Hilfe

In den sieben Jahren, die seitdem vergangen sind, haben Bund und Länder nicht nur Polizei­gesetze so umgestaltet, dass die Rechte des Einzelnen eingeschränkt werden. Anfang 2022 trat in Nordrhein-Westfalen ein neues Versammlungsgesetz in Kraft, das Veranstalter in bestimmten Fällen verpflichtet, den Behörden im Vorfeld Namen und Adressen von Ordnern mitzuteilen. Im Ausländerrecht jagt eine Verschärfung die nächste, sogar die Möglichkeit, Doppelstaatler auszubürgern wurde diskutiert. Während der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Union forderte Philipp Amthor, CDU-Abgeordneter und seit dieser Woche Staatssekretär im neuen Digitalministerium, das Informationsfreiheitsgesetz einzuschränken, das Journalistinnen und Bürgern Auskunftsanspruch gegenüber Behörden gibt.

Gegen diese Vorstöße regt sich Widerstand, auch in Form von Klagen. Hin und wieder kassiert Karlsruhe tatsächlich einzelne Regelungen. So erklärte das Bundesverfassungsgericht im Februar 2023 eine Software zur automatisierten Verarbeitung von Personendaten für verfassungswidrig, die Hessen und Hamburg benutzt hatten. Kurz zuvor waren Teile des mecklenburg-vorpommerschen Polizeigesetzes gekippt worden, unter anderem wegen zu weiter Einsatzmöglichkeiten für verdeckte Ermittlerinnen und Ermittler.

Doch im Vergleich zu den vielen Novellen ist das wenig. „Rechtsprechung, die der Polizei Grenzen setzt, ist selten“, sagt Anja Sommerfeld von der Roten Hilfe. „Verfahren gegen unliebsame Protestierende, politische Aktivist*innen, aber auch Betroffene von Rassismus nehmen zu und wir verzeichnen eine immer größer werdende Zahl von Fällen, in denen eine Unterstützung notwendig wird.“ Neben höheren Geldstrafen beobachte der Verein, dass häufiger Freiheitsstrafen verhängt würden. „Rassismus, Sexismus und willkürliche Gewalt in Teilen der Polizei sind hinreichend erforscht und bekannt. Wir haben noch kein Polizeigesetz gesehen, das dem Einhalt gebieten würde.“

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