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Das Modell Eisenhüttenstadt

Das neu errichtete Dublin-Zentrum an der deutsch-polnischen Grenze ist das Pilotprojekt einer neuen, harten Linie in der Asylpolitik. Anfang April kam es dort zur ersten Sammelabschiebung nach Polen. Menschenrechtsorganisationen und An­woh­ne­r:in­nen kritisieren das Vorgehen stark. Ob sich dieses Modell dennoch dauerhaft durchsetzt, bleibt offen

Ehemalige Kaserne, heute Dublin-Zentrum: bietet Platz für 1.500 Asylsuchende

Aus Eisenhüttenstadt Eva Hoffmann(Text) und Sitara Thalia Ambrosio(Fotos)

Seit Wochen schläft Khaled nachts kaum noch. Die Polizei, das wissen alle in „Eisen“, wie die Erstaufnahmeeinrichtung von ihren Bewohnern genannt wird, kommt in der Nacht oder am frühen Morgen. Erst am nächsten Tag merkt ein Zimmernachbar vielleicht, dass jemand fehlt, sagt Khaled, der anonym bleiben möchte. Oder, dass jemand von einem Termin bei der Ausländerbehörde nicht wiederkommt, das gäbe es auch. Menschen hätten Methoden entwickelt, dieser Angst entgegenzutreten: woanders übernachten, den Termin nicht wahrnehmen, sich selbst etwas antun. Aber als die Polizei am Donnerstag, den 3. April frühmorgens in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt eintrifft, da sind alle wach. Mindestens sechs große Polizeiwagen sind laut übereinstimmender Aussagen mehrerer Be­woh­ne­r:in­nen auf dem Gelände vorgefahren. Fotos, die der taz vorliegen, zeigen außerdem einen roten Reisebus, der zwischen den Polizeifahrzeugen parkt.

Das Ziel der Aktion: Die Polizei soll erstmals eine Sammelabschiebung von Asylsuchenden durchführen, die ein Dublin-Verfahren in Polen anhängig haben. Das bedeutet, dass diese Menschen bereits bei der Einreise in die EU in Polen registriert wurden und Polen somit zuständig für ihren Asylantrag ist. So soll verhindert werden, dass Menschen in mehreren EU-Staaten gleichzeitig Asyl beantragen. Erfolgt die Abschiebung binnen sechs Monaten nicht, wird Deutschland für den Asylantrag zuständig und das Verfahren beginnt von vorn. Rund 229.500 Menschen haben im vergangenen Jahr, laut Pro Asyl, in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Bei jedem dritten dieser Anträge wäre laut Dublin-Regelung zunächst ein anderer EU-Staat für die Bearbeitung zuständig gewesen. Das System steht immer wieder in der Kritik – zum einen von Menschenrechtsorganisationen, die auf die oft unhaltbaren Lebensbedingungen für Geflüchtete an den EU-Außengrenzen hinweisen, zum anderen von den betroffenen Grenzstaaten selbst, die finanziell und bürokratisch stark überlastet sind.

Eisenhüttenstadt liegt direkt an der polnischen Grenze, eine halbe Stunde Autofahrt vom größten Grenzübergang der Region, Frankfurt (Oder), entfernt. Am Rand der ehemaligen Stahlstadt, in einer alten Kaserne, umgeben von einem hohen Zaun, der in alle Richtungen mit Kameras überwacht wird, ist Platz für 1.500 Asylsuchende, bevor diese in Heime untergebracht, umverteilt oder abgelehnt werden. Aktuell leben hier laut Zentraler Ausländerbehörde 800 Menschen. Viele warten Monate darauf, dass ihr Antrag bearbeitet wird. Sie müssen sich an- und abmelden, wenn sie Eisenhüttenstadt verlassen wollen, und erhalten finanzielle Leistungen.

Doch seit März dieses Jahres gelten, laut der Zentralen Ausländerbehörde, für 37 Personen weitere Sonderregeln auf dem Gelände. Sie sind im neu errichteten Dublin-Zentrum untergebracht. Ein Gebäude, eigens für Menschen mit Dublin-Verfahren in Polen errichtet. Khaled ist einer von ihnen. Mit seinen hageren Fingern nestelt der Anfangzwanzigjährige eine weiße Plastikkarte aus der Jeans. Darauf eine Kombination aus einem Buchstaben, einer Zahl und einem großen D, für Dublin. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, weil er bereits in Polen registriert wurde. Jetzt darf er Eisenhüttenstadt nicht mehr verlassen. „Die letzten Wochen waren die Hölle“, sagt Khaled, „es fühlt sich an wie im Gefängnis, ich warte jede Nacht darauf, dass sie mich holen. Es ist Psychoterror.“ Mittagessen, das gibt es in der Unterkunft schon um 11.30 Uhr, Abendessen ist um 16 Uhr, erzählt Khaled. „Das Essen ist schrecklich, aber ich kann auch nichts anderes mehr kaufen. Mein Geld wurde komplett gestrichen. Nicht mal eine neue Zahnbürste kann ich mir leisten.“

Im vergangenen Jahr verschärfte die Ampelregierung die Kürzungsmöglichkeiten im Asylbewerberleistungsgesetz. In Eisenhüttenstadt wird diese Verschärfung seit März erstmalig in Brandenburg mit all ihren gesetzlichen Möglichkeiten ausgeschöpft: Eine strenge Residenzpflicht, beschränkt auf wenige Kilometer Radius, und die Streichung von finanziellen Leistungen im Dublin-Verfahren bei jenen, die im Dublin-Zentrum auf die Rückführung warten. Kombiniert mit der gesonderten Unterbringung im Dublin-Zentrum soll laut Leiter der Zentralen Ausländerbehörde, Olaf Jansen, das Verfahren so „erheblich gestrafft und beschleunigt“ werden, so dieser in einem Interview mit dem RBB. „Das haben wir so jetzt nicht beobachtet, dass das gut funktioniert hat“, sagt eine Person, die in der Erstaufnahmeeinrichtung arbeitet. Im Gegenteil.

Das Dublin-Zentrum als Pilotprojekt der Zentralen Ausländerbehörde wird von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl genauso kritisiert wie das Dublin-Verfahren selbst. „Die Präsenz der Polizei ist einschüchternd. Dieses Regime der Angst hat man durch diese Sondereinrichtung noch mal verschärft“, sagt Karl Kopp, Europaexperte von Pro Asyl, „im Lager denkt ja jeder bei so einem Einsatz; jetzt kommen sie mich holen, egal, wie das eigene Verfahren wirklich ist.“ Dabei sei der Grundgedanke eines fairen Asylverfahrens ja gerade, „dass diese Verfahren, auch die Dublin-Regelungen, im angstfreien Zustand ohne diese Kontrolle und Einschüchterung geschehen“. Die Angst, das ist laut Kopp Teil einer Strategie: „Wenn von Effizienz die Rede ist, dann ist eigentlich Abschreckung gemeint.“ Und die scheint zu funktionieren:

„Sie haben Menschen über das gesamte Gelände verfolgt“, erinnert sich Khaled, der das Vorgehen der Polizei aus einem Versteck heraus beobachtet hat. „Sie hatten einen dicken Stapel Akten dabei, obenauf lagen die Fotos der Menschen, die sie gesucht haben, zehn vielleicht.“ Weitere Augenzeugen bestätigen der taz gegenüber diese Beobachtungen. Auch in das Schutzhaus, das besonders vulnerable Personengruppen beherbergt, seien Mitarbeiter der Ausländerbehörde eingedrungen, berichten Anwohner:innen. Der stellvertretende Pressesprecher des brandenburgischen Innenministeriums, Andreas Carl, weist diesen Vorwurf im Namen der Zentralen Ausländerbehörde entschieden zurück. Die Maßnahme sei geordnet verlaufen, „es wurden keine Vorkommnisse festgestellt, die über das übliche Maß an Reaktionen hinausgingen“, heißt es.

Grace, eine alleinerziehende Mutter, die selbst bereits in Polen registriert wurde und anonym bleiben möchte, erinnert den Morgen anders: „Es war extrem hektisch, überall rannten Menschen auf und ab.“ In das Stockwerk für Frauen und Kinder, in dem sie untergebracht ist, sei die Polizei zwar nicht gekommen, dafür habe sie aber die Kantine und die Toiletten durchsucht und wahlweise Menschen auf dem Hof befragt. Ihre Nachbarin sei in dem Chaos ohnmächtig geworden, erzählt sie. Sie selbst habe ihr Baby an die Brust gepresst, damit es nicht schreit und sich in einem Schrank versteckt.

Dublin-Zentren in Deutschland

Die Dublin-Verordnung bestimmt, dass der EU-Staat der Erstregistrierung für den Asylantrag zuständig ist. Bei Asylanträgen in anderen Ländern kann eine Rücküberstellung innerhalb von sechs Monaten erfolgen. 2025 richtete das Bundesinnenministerium zwei Dublin-Zentren ein: in Hamburg für Abschiebungen in verschiedene EU-Staaten und in Eisenhüttenstadt ausschließlich nach Polen. Es gelten strenge Residenzpflichten.

Kritik Die Opposition bezeichnete die Dublin-Zentren als „Wahlkampfgetöse“. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die haftähnlichen Bedingungen, den psychischen Druck und die Gefahr der Retraumatisierung für Geflüchtete.

Eigentlich sollte das Dublin-Zentrum das schnelle Erfassen von Personen im Abschiebeverfahren erleichtern. Stattdessen setze das Vorgehen noch viel mehr Menschen enormem psychischem Stress aus und sei außerdem verfassungswidrig, sagt Sarah Lincoln, Rechtsanwältin und Legal Director der Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. Sie weist darauf hin, dass die Schlafzimmer in den Unterkünften grundrechtlich geschützte Wohnräume seien. „Die sind der einzige Rückzugsort, den Geflüchtete haben“, sagt sie. Artikel 13 Grundgesetz bestimme, „dass Wohnräume nur bei dringender Gefahr betreten werden dürfen und es für Durchsuchung einen richterlichen Beschluss braucht. Man sieht an diesem Beispiel ganz gut, dass dieser Wohnungsschutz gerade in Geflüchtetenunterkünften oft missachtet wird.“

Man habe sich bei der Suche auf zwei Wohnhäuser sowie die Frühstückskantine im Männerbereich beschränkt, erwidert die Pressestelle des Innenministeriums. Gesucht habe man zehn Personen, von denen nur zwei aufgefunden worden seien, sagt der stellvertrende Pressesprecher Carl: „Bei der Überstellung von zwei Personen aus Eisenhüttenstadt nach Polen kann man beim besten Willen nicht von einer ‚groß angelegten‘ Rückführung sprechen.“

Die taz sprach mit fünf Personen, die anonym bleiben wollen. Sie hatten einen anderen Eindruck, einige von ihnen sagen, auch ihre Zimmer seien durchsucht worden, obwohl sie sich nicht im Abschiebeverfahren befinden. Die Polizei darf laut Aufenthaltsgesetz im Rahmen einer Abschiebung zwar auch andere Räume von Dritten betreten, aber nur, wenn sie Hinweise darauf hat, dass sich dort die gesuchte Person aufhält. „Keinesfalls dürfen Polizei oder Sozialarbeiter vor Ort einfach pauschal alle Gebäude und Räume durchsuchen“, sagt Rechtsanwältin Lincoln.

Mit dem neuen Koalitionsvertrag wird die rechtliche Lage für Geflüchtete noch prekärer. Im Asylverfahren sollen zukünftig die Geflüchteten selbst die Beweislast vorbringen – bisher gilt der sogenannte Untersuchungsgrundsatz, der besagt, dass das Gericht den Sachverhalt selbst aufklärt und zum Beispiel Umstände, die es über das Herkunftsland weiß, berücksichtigt. Künftig soll der Beibringungsgrundsatz gelten. Das bedeutet, dass Geflüchtete selbst sämtliche Informationen über ihre Fluchtursachen vortragen müssen. Rechtsanwältin Lincoln sieht darin einen großen Nachteil für ein faires Asylverfahren. Wenn der Untersuchungsgrundsatz durch den Beibringungsgrundsatz ersetzt wird, hat das erhebliche Folgen für die Geflüchteten. Konkret heißt das: Geflüchtete ohne guten Anwalt stehen deutlich schlechter da und könnten keinen Schutzstatus bekommen, obwohl er ihnen zusteht. „Das ist verfassungsrechtlich und europarechtlich inakzeptabel, weil das dazu führen kann, dass man Leute ablehnt, denen in ihrem Land Krieg oder politische Verfolgung droht“, sagt Lincoln.

„Dieses Regimeder Angst hat man durch diese Sondereinrichtung noch mal verschärft“

Karl Kopp, Europaexperte von Pro Asyl

Auch in den von der neuen Regierung geplanten Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze sieht Lincoln einen klaren Verstoß gegen Europarecht und menschenrechtliche Vorgaben. „Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, hat ein Recht darauf, dass in einem geordneten Verfahren geprüft wird, ob Deutschland zuständig ist“, sagt sie, und falls nein, müsse geprüft werden, ob die Aufnahmebedingungen im zuständigen Land eine Überstellung erlauben.

Harte Rückweisungen dürften innerhalb der EU schwer umzusetzen sein. Die Klügeren in der Koalition wissen, dass das nur im Konsens der Natio­nalstaaten geht, sonst zerlegt man Europa“, sagt Karl Kopp, „die weniger Klugen werden vielleicht mit der Polizei versuchen, ab und zu einfach mal zu machen. Also; Zurückweisungen durchzuführen, bis ein Gericht sie stoppt“, sagt Karl Kopp. Pro Asyl lägen bereits mehrere Berichte über illegale Pushbacks zurück nach Polen vor. Er betont, dass diese Politik der Abschottung mit dem Koalitionsvertrag nicht neu erfunden wurde: „Dublin ist die Obsession der verschiedenen deutschen Regierungen gewesen. Und die haben immer den Fokus gehabt; die Außengrenzen sollen die Hauptverantwortung tragen. Das passiert vor allem auf Kosten der Schutzsuchenden. Die erleben Pushbacks, Elendslager, Inhaftierungen.“

Sechs Tage versteckte sich Khaled in den Wäldern zwischen Polen und Belarus. Nur die Klamotten am Körper, ein Handy und etwas Essen. Khaled kommt aus einem afrikanischen Land im Bürgerkrieg. Geschossen wurde auf ihn in Europa. Er glaubt, dass es polnische Grenzbeamte waren, deren Kugel sein Bein gestreift hat. Noch immer sieht man an der Stelle eine Narbe. Schlimmer seien aber die Schläge danach gewesen, erzählt er. „Sie haben mich so lange geschlagen, bis ich blutete. Dann zerstörten sie mein Handy, warfen mein Essen weg und fuhren mich zurück in den Wald auf die belarussische Seite.“ Dort hätten belarussische Grenzbeamte ihn eingesammelt und ärztlich versorgt. Beim zweiten Versuch, die Grenze zu überqueren, habe er auf ein Schleuser-Auto gesetzt. Das setzte ihn kurz hinter der Grenze wieder ab. Wieder wird Khaled von der polnischen Polizei aufgegriffen, dieses Mal inhaftieren sie ihn für mehrere Tage auf einer Polizeiwache, bevor er in eine Erstaufnahmeeinrichtung nahe der Grenze gebracht wird. Drei Monate wird er hier bleiben.

Grace habe ihr Baby an die Brust gepresst, damit es nicht schreit und sich in einem Schrank versteckt

„Es war wie im Knast. Zehn Männer teilten sich ein Zimmer. Die Fenster waren vergittert. Ich durfte das Zimmer nur zum Essen verlassen oder um eine Stunde am Tag den Computer zu benutzen. Die Messenger-Apps waren darauf aber alle gesperrt. Unsere Handys wurden uns abgenommen. Viele Menschen haben dort ihren Verstand verloren. Auch ich dachte, ich werde hier sterben.“ Den Anwalt, den er zugeteilt bekommt, hat er kein einziges Mal gesprochen. Das Eingesperrtsein habe ihn mürbe gemacht. Als er dem Personal mitteilt, er würde eher freiwillig zurück in den Krieg gehen, statt länger eingesperrt zu sein, lassen sie ihn gehen. Einfach so. Zu Fuß läuft er Richtung Deutschland, bis zu der großen Brücke, die Deutschland mit Polen verbindet. Als er den Grenzbeamten dort in die Arme läuft, bittet er sofort um Asyl. Sie bringen ihn nach Eisenhüttenstadt.

„Wenn Leute so was erfahren haben, dann müssten sie eigentlich von der Zurücküberstellung geschützt werden“, sagt Karl Kopp, dem viele Fälle dieser Art bekannt sind, „das ist keine revolutionäre Forderung. So würde eigentlich Rechtsstaatlichkeit aussehen.“ Und trotzdem bekommt Khaled nur wenige Wochen nach seiner Einreise in Deutschland den Dublin-Bescheid zugestellt. „Es fühlt sich wieder an wie im Gefängnis“, sagt er, „ich kann mir zwar die Füße vertreten, aber wieder bin ich in einem permanenten Angstzustand.“

Auch Grace, die junge Frau mit dem kleinen Kind, hat in Polen nach eigenen Angaben ähnliches erlebt. Im August 2024 schlägt sie sich gemeinsam mit ihrem Partner durch die belarussisch-polnischen Wälder, den Säugling auf dem Rücken, wie sie ihn heute noch trägt. Auch sie wird von polnischen Grenzbeamten aufgegriffen und vier Monate in einem Erstaufnahmelager festgehalten. Ihr Asylgesuch soll sie online ohne Übersetzerin einer Rechtsanwältin vortragen. „Es war ein Raum voll fremder Menschen, ich war im Schockzustand – wie sollte ich da meine traumatische Geschichte und meine Fluchtgründe vortragen?“, sagt sie, „nicht mal mein Partner wusste all die Dinge, die mir zu Hause angetan wurden, deshalb habe ich in dem Moment auch nichts gesagt.“ Einen rechtlichen Beistand habe sie nicht gehabt. Binnen weniger Minuten sei ihr Antrag abgelehnt worden, erzählt sie.

Der Eingang der Zentralen Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt: bewacht von Sicherheitspersonal und Kameras

Grace versteht ein bisschen Polnisch und bekommt mit, wie das Personal über sie spricht. „Ich habe viele rassistische Wörter gehört. Mir wurde so viel Hass entgegengebracht“, sagt die junge Mutter, „ich bekam kein ordentliches Essen für mein Baby, keine Windeln – gar nichts. Irgendwann habe ich meine Zimmernachbarn angefleht, mir Essen für das Kind abzugeben, weil es einfach nicht gereicht hat.“ Erst, als ihr Partner nach Monaten in der Einrichtung einen Suizidversuch unternimmt, wird sie kurzfristig entlassen. Grace setzt die Reise alleine fort, fragt sich nach Warschau durch und steigt in den Zug nach Berlin. „Ich wurde nicht kontrolliert, vielleicht, weil ich mit meinem Baby so elend aussah, dass der Kontrolleur Mitleid mit mir hatte, vielleicht war das mein Glück.“ Mitten in der Nacht kommt sie am Hauptbahnhof an, in ihren Schuhen steht das Blut vom Laufen. Über Umwege gelangt sie in die Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt. Zwei Monate später erhält sie ihren Bescheid: Sie soll zurück nach Polen. „Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Gefängnis in Deutschland und einer Asyl-Einrichtung in Polen – ich würde liebend gern mit meinem Kind hier ins Gefängnis gehen“, sagt sie.

Das Dublin-Zentrum speziell für Polen scheint eher der Symbolpolitik zu dienen statt der Effizienzsteigerung: Beide Personen, die am 3. April von den Beamten nach Polen abgeschoben wurden, sind mittlerweile zurück in Deutschland. Einer der beiden Fälle stellte sich im Nachhinein als rechtswidrig heraus, da der Mann keinen Bescheid erhalten hatte.

Doch egal wie sehr das Vorgehen im Umgang mit Dublin-Verfahren nur ein politisches Strohfeuer sein mag, darin zeige sich der neue „Sound“ der deutschen Asylpolitik, sagt Europaexperte Kopp. „Die übergeordnete Frage ‚Wie kann Europa ein faires Aufnahmesystem für Asylsuchende organisieren?‘ ist mit dem Koalitionsvertrag nicht berührt. Im Gegenteil: Man ist bereit, Menschenwürdestandards in Deutschland runterzufahren“, sagt er, „der Erfolg dieser neuen Asylpolitik ist nicht die Integration, sondern der Flüchtling, der nicht mehr da ist.“

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