piwik no script img

Ausgabe Arch+ zu MonumentalarchitekturKultische Betongiganten

„Arch+“ widmet die neue Ausgabe einer anderen Architektur der Moderne, die dem Dogma des Funktionalismus Megabauten für das Kollektiv entgegenstellt.

So schön, so monumental: „Chronik Georgiens“ auf einer Erhebung nahe der Hauptstadt Tiflis von Surab Zereteli Foto: Grigory Sokolinsky

Berlin taz | Sie sind unglaublich groß, sie ziehen Tausende von Menschen an – und doch finden sie in den Architekturdiskursen der westlichen Welt kaum Beachtung. Schreine, Tempel, Pilger- und Veranstaltungsstätten; kurz: Monumentalarchitekturen, in denen archaisch anmutende Massenrituale ihren baulichen Ausdruck finden.

Nun widmet Arch+, Zeitschrift für Architektur und Urbanismus, dieser Typologie eine Ausgabe. Ihr Titel, „Wonders of the Modern World“, klingt ziemlich paradox. Waren doch die Moderne und die in ihr verkörperte Aufklärung gerade dazu angetreten, diese Welt zu entmystifizieren.

Das Heft stellt das gleichnamige Forschungsprojekt der TU Wien vor, das von den Architekten Anna Livia Friel und Pier Paolo Tamburelli geleitet wird. Im Einleitungstext hält Tamburelli fest, dass es zunächst darum gehe, die modernen Wunder überhaupt sehen zu lernen.

Von Las Vegas lernen

Wie im 1972 erschienenen Buch „Learning from Las Vegas“. Da schenkten Denise Scott Brown und Robert Venturi der Trash-Architektur in der Wüstenstadt Beachtung und rissen das geltende Regelwerk einer ornamentfreien Moderne nieder. Die beiden Hauptkriterien: In (Bau-)Wundern tun große Menschenmengen „Unerklärliches“, und sie wurden nach 1753 erbaut – dem Jahr, in dem Marc-Antoine Laugiers „Essai sur l’Architecture“ mit der schützenden „Urhütte“ einer modernen Architektur den theoretischen Unterbau lieferte.

arch+ Ausgabe

Anna Livia Friel, Anh-Linh Ngo, Pier Paolo Tamburelli (Hrsg.): „Wonders of the Modern World“, Arch+ Verlag/Spector Books, Leipzig 2025, 208 Seiten, Deutsch/Englisch, 28 Euro

Rationalität war die Prämisse, in der Architektur hatte die Form strikt der Funktion zu folgen. Dieses Dogma der Moderne hält insbesondere in der Architekturkritik bis heute an. Und doch entstehen immer weitere Monumente, Gebäude und Landschaften, die nicht nur rein zweckhaft sind, sondern Raum für Rituelles und Kultisches bieten.

50 Beispiele dafür findet man im Heft. Die Liste könnte aber nach Belieben fortgesetzt werden, denn die Wunder sind allgegenwärtig: Die US-Präsidentenköpfe am Mount Rushmore, die jedes Jahr das Epizentrum der Sturgis Motorcycle Rally bilden, die seit 2018 in quietschbunten Farben erstrahlende Hindu-Pilgerstätte der Batu Caves in Kuala Lumpur oder die jährlich neu entstehende Bierzeltstadt beim Münchner Oktoberfest.

Konstitution von Gemeinschaft

Sie alle stehen hier ebenbürtig nebeneinander. In ihnen wird eine zentrale Aufgabe der Architektur sichtbar, die die Moderne, so die These, in ihrer Reduktion auf das unmittelbar Notwendige aus dem Blick verlor: die Konstitution von Gemeinschaft. „Wunder“ wurden erbaut, um die Machtverhältnisse und Gesellschaftsordnungen widerzuspiegeln, unter denen sie entstanden sind – und verkörpern insofern kollektive Werte.

Die Orte und der Ablauf der Riten, die ihnen Sinn verleihen, werden im Heft jeweils mit kurzen Aufsätzen und Chronologien skizziert. Zeichnungen versuchen mit gleichbleibenden Linienstärken möglichst wertungsfrei zu fassen, was physisch vorhanden ist. Der nüchterne Umgang mit den Wundern ist Methode, um nicht vom Strudel geopolitischer Verstrickungen und hegemonialer Zuschreibungen mitgerissen zu werden.

Das Monumentale der Bauten legt kollektive Sehnsüchte auf naive Weise offen

Den beschreibt Anna Livia Friel in ihrer schwindelerregenden Recherche zum Mansudae Art Studio. Das Studio stellt in Nordkorea kolossale Mega-Statuen her und bedient sich dabei einer Bildsprache, die man noch aus der stalinistischen Propaganda kennt. Dafür erhält es internationale Aufträge. Auch das Monument der afrikanischen Wiedergeburt in Dakar mit seinen heroisch gen Westen blickenden Figuren wurde in Nordkorea entworfen, mit 50 Meter Höhe bildet es eine der größten Statuen auf dem afrikanischen Kontinent.

Bilderzyklus aus Georgien

Auch lesenswert: Erinnerungen des Architekturtheoretikers Vladimir Paperny an den kürzlich verstorbenen georgisch-russischen Bildhauer Surab Zereteli. Seine „Chronik Georgiens“ auf einer Erhebung nahe der Hauptstadt Tiflis ist eine an Stonehenge erinnernde Ansammlung monumentaler Stelen. Ihr Bilderzyklus zeigt die antike Geschichte des Kaukasuslandes, seine Könige, sein frühes Christentum, seinen Heiligenkult. Zeretelis düsteres Werk gilt als bissiger, noch zu Zeiten der Sowjetunion geäußerter Kommentar zum georgisch-russischen Verhältnis.

Die einprägsamen Bilder der Fo­to­gra­f:in­nen Giovanna Silva und Grigory Sokolinski im Heft zeigen Spektakel, aber auch den Alltag dieser Räume, bunt, gigantisch, dreckig und voller Widersprüche. Die vorgestellten Orte legen kollektive Sehnsüchte und die Verfasstheit ihrer Gesellschaft auf nahezu naive Weise offen. Diese Architekturen behaupten die Überlegenheit einer Religion oder Kultur, sie produzieren Zugehörigkeit. Da kann einem auch unheimlich werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!