: Görlitz zeigt die rote Flagge
In der Stadt an der Neiße versammeln sich zum Tag der Arbeit Hunderte Menschen für Solidarität, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Die DGB-Kundgebung setzt ein deutliches Zeichen gegen politische Resignation und rechte Dominanz
Zwar richtete der DGB seine zentrale Maikundgebung in der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz aus – doch besonders spannend war ein Blick nach Görlitz an der Neiße, wo Vielfalt und politische Mischung der Veranstaltung ein besonderes Profil gaben. Unter dem Motto „Mach dich stark – mit uns“ zog ein breites Bündnis vom Hauptbahnhof zur Wiese zwischen Gerhart-Hauptmann-Theater und der alten Kaisertrutz. Hunderte Besucher der verschiedensten Stände nahmen von einem knappen Dutzend AfD-Anhänger kaum Notiz, die in etwa hundert Meter Entfernung auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas ratlos herumstanden.
Dieses Bild trügt allerdings. Diese DGB-Maidemo fügte dem schillernden Bild einer Stadt politischer Kontraste eine weitere Facette hinzu. Bei der Bundestagswahl im Februar ragten die Spitzenergebnisse der AfD im Wahlkreis Görlitz noch aus dem ostdeutschen und sächsischen blauen Meer heraus. Die so genannte Alternative holte 46,7 Prozent bei den Zweitstimmen, der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla gewann den Wahlkreis mit 48,9 Prozent. Zwei Bundestagswahlen zuvor hatte Chrupalla 2017 schon dem im selben Jahr zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählten Michael Kretschmer (CDU) seinen Stammwahlkreis abgenommen.
Andererseits setzte sich der Musiker und damalige CDU-Landtagsabgeordnete Octavian Ursu 2019 in der Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt gegen den AfD-Bewerber Sebastian Wippel durch. Die Stadt war und ist auch im Wortsinn eine Brückenstadt für die deutsch-polnische Verständigung und förderte früh den Europagedanken. Festivalgründungen wie „Europera“, die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2010 und der rege Einkaufs- und Touristenverkehr über die Neißebrücken sprechen dafür.
Aktuell belasten allerdings die verschärften deutschen Grenzkontrollen das Verhältnis zur polnischen Stadt Zgorzelec jenseits der Neiße. Der polnische Bürgermeister beklagte sich über lange Warteschlangen, die eine deutliche Behinderung darstellen. Sein deutscher Kollege Ursu bestätigt diese Verstimmung, meint aber auch, die polnische Seite zeige zunehmend Verständnis für deutsche Sicherheitsinteressen.
Der Veranstalter DGB freut sich in diesem Jahr über eine Resonanz, die noch nie so gut gewesen sein soll. Trotz oder wegen der starken AfD. Die hört man aus Biertischgesprächen aber gelegentlich heraus. „Jetzt werden sie gleich rufen, die AfD müsse weg“, bemerkt ein älterer Herr. „Dabei ist das doch die einzige Partei, die etwas macht!“ Er scheint nicht zu wissen, dass die AfD gegen den Mindestlohn agitiert. Nicole Scheibe vom DGB-Kreisvorstand bekennt daraufhin, gerade deswegen könne sie gar nicht anders, als weiterzukämpfen. „Ich geben nicht auf!“
Sie sagt die Redner an. Dass der Oberbürgermeister am ersten Mai spricht, hat in Görlitz Tradition. Octavian Ursu bestätigt im Gespräch zwar die AfD-Dominanz und die schwierige Görlitzer Gemengelage. In seiner Ansprache aber geht er auf die nicht ein, bleibt eher konventionell bei Gewerkschaftsthemen. Ein typischer CDU-Appell an Sozialpartnerschaft, an Verständnis und ein Miteinander von Betriebs- und Personalräten mit „verantwortungsbewussten Unternehmern“, die es glücklicherweise in der Stadt auch gebe.

Bleibt das Echo hier noch verhalten, füllt sich der Platz vor der Rednertribüne plötzlich, als Fridolin vom Bündnis „Klare Kante“ spricht. Ein antifaschistisches Bündnis, das im Büro des Stadtverbandes der Linken und sitzt und sich über ebenso großen Zulauf freuen kann wie die auch in Görlitz wiedererstarkte Linke. Wie seine Nachfolgerinnen auch spricht er die drohende Erosion zivilgesellschaftlicher Strukturen im Zuge der laufenden Haushaltberatungen im Sächsischen Landtag an.
Was die Minderheitskoalition von CDU und SPD plant, geht in eine ähnliche Richtung wie auf Kreis- und Kommunalebene bereits im Gange. Demokratieförderprogramme werden gekürzt, Vereine und Institutionen ausgetrocknet. Man dürfe nicht rechte Gewalt beklagen und dann staatlicherseits wegsehen, mahnte Fridolin. „Es ist höchste Zeit, dass der Staat handelt!“ In Sachsen müsse endlich das Demokratiefördergesetz kommen. Viel Beifall brandete auf, als er Bundestagsparteien vorwarf, inaktiv gegen rechts zu sein, sich aber zur politischen Mitte zu zählen.
Monique Hänel vom Bündnis „Görlitz bleibt bunt“ verwies auf die jüngste Statistik der Opferberatung RAA zu rechter Gewalt in Sachsen. Wenn diese Beratungsangebote eingeschränkt, soziale Orte oder Orte der Demokratie geschlossen werden und Strukturen zerbröseln, gingen Fluchtorte und Schutzräume verloren. „Wer jetzt kürzt, zerstört die Zukunft!“ Der gesellschaftliche Zusammenhalt würde weiter schwinden.
Von feministischer Seit kam der Hinweis, dass der Männerüberschuss in der Lausitz durch Wegzug fähiger junger Frauen auch tendenziell eine Radikalisierung dieser einsamen Männer begünstige. Für eine von Abschiebung bedrohte behinderte Frau wurden Spenden gesammelt.
Bei aller Leidenschaft blieb dieser sonnige Mainachmittag aber ausgesprochen friedlich und gesellig. Die wenigen Polizisten, die überhaupt zu entdecken waren, mussten nirgendwo einschreiten.
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