piwik no script img

Alltag nach dem Fall des Assad-RegimesMit Taschenlampen durchs neue Syrien

In Damaskus herrschen vier Monate nach dem Ende des Regimes weiter etwas Angst sowie viel Freude – trotz der schwierigen Versorgungslage und Armut.

Im neuen, befreiten Syrien: Kinder spielen auf den Straßen der Altstadt von Damaskus Foto: Serena Bilanceri

Damaskus taz | In der Altstadt des neuen Damaskus, Hauptstadt des neuen Syriens, sitzen an diesem Abend nur vereinzelte Gäste im Zwielicht einer Tanzbar. Grelle Neonlichter erhellen den nackten Stein an den Wänden, der DJ bewegt konzentriert die Knöpfe am Mischpult, schwankt im Rhythmus des Elektrobeats. Plötzlich geht das Licht aus, der Sound ist weg – Dunkelheit, Stille. Kompletter Stromausfall in der gesamten Hauptstadt, dunkle Straßen. Einige private Stromgeneratoren, oft durch in Wasserflaschen umgefüllten Treibstoff am Leben gehalten, kämpfen gegen die Dunkelheit an. Auch in der Bar nehmen sie nach einigen Momenten den Betrieb auf. Es wird wieder hell und die Musik hallt erneut durch das Gewölbe.

Seit etwa vier Monaten ist das Regime von Ex-Diktator Baschar al-Assad Geschichte. Es hatte das Leben Hunderttausender seiner Bür­ge­r*in­nen durch Folter, außergerichtliche Tötungen, Repression und Kampfhandlungen in eine Hölle verwandelt. In den vergangenen vier Monate haben Hoffnung wie Sorge die Sy­re­r*in­nen erfüllt. Wie lebt es sich nun in diesem „befreiten Land“, im neuen Syrien?

Die Gesichter vieler Menschen in Damaskus strahlen, wenn sie durch die Gassen der Altstadt schlendern. Oder wenn sie ihren Kindern Eis oder Pizza kaufen, mit ihren Freun­d*in­nen in Grüppchen vor den antiken Gebäuden des Viertels laut plaudern. Manchmal sind sie aber auch von Furcht überschattet: „Wir haben Angst“, sagen einige – Jüngere wie Ältere. Zum Beispiel eine junge, liberale Frau in einer Bar, der die langen, glatten, rot gefärbten Haare über die Schultern fallen. Von ihrer Angst flüstern auch Menschen in den Dörfern rund um Homs, Tartus, Latakia. Was dort vergangenen Monat passiert ist – die Hunderten zivilen Toten unter Alawit*innen, aber auch Chris­t*in­nen und Sun­nit*in­nen bei den Kämpfen zwischen Assad-Loyalist*innen und neuer Regierung –, hängt noch immer in der Luft. Ebenso die immer wieder vorkommenden Entführungen und Morde im ganzen Land – durch Unbekannte, Extremisten und Rachsüchtige. Vor allem bei Angehörigen von Minderheiten und liberalen Menschen mischt sich weiter große Furcht unter Freude.

Nach dem Sturz von al-Assad hatte am 8. Dezember die ehemalige islamistische Rebellengruppe, und De-facto-Regierung der nördlichen Provinz Idlib, Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) die Macht übernommen. Inzwischen soll sich diese formal aufgelöst haben, es gibt eine Übergangsregierung. Sie besteht aus Mitgliedern der Zivilgesellschaft, Technokraten und Politikern, die der HTS nahestanden.

Recherchefonds Ausland e.V.

Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.

➡ Erfahren Sie hier mehr dazu

In Damaskus sind Checkpoints weiter allgegenwärtig. Auch zu Assad-Zeiten gab es sie – doch nun stehen sie auch an Orten, an denen vor wenigen Monaten noch niemand kon­trollierte. An den Checkpoints stehen Polizisten und Militärs, Männern in schwarzem Overall oder Camouflage, mit Kalaschnikows und Handlampen, um nachts das Innere der Autos auszuleuchten, die sie durchsuchen. Meist sind sie freundlich.

„Zwei Stunden Strom, vier Stunden nichts“

Das Leben der Menschen dominiert meist sowieso etwas anderes: Die Infrastruktur in Syrien ist völlig zerrüttet. Vor dem Sturz des Regimes floss der Strom nur wenige Stunden am Tag – wenn überhaupt. Die neue Regierung hat versprochen, die maroden Netze schnell wieder aufzubauen. Doch Strom gibt es derzeit weiterhin nur wenige Stunden am Tag: „Zwei Stunden Strom, vier Stunden nichts“, sagt ein Barbetreiber in Damaskus. Und das nicht einmal überall.

In seinem Wohnzimmer inmitten eines christlichen Viertels von Damaskus sitzt Wissam Joumaa auf dem Sofa, vor ihm eine graue Batterie mit Elek­troden. Joumaa freut sich, denn gerade fließt der Strom in seiner Wohnung: Der Fernseher ist an, das Zimmer hell beleuchtet. Man kann sich unterhalten, einander ansehen, ohne die Taschenlampen auf den Handys einschalten zu müssen. Und die Powerbank, mit der Joumaa sein Handy auflädt, wenn wieder einmal der Strom ausfällt, bleibt gerade außer Betrieb.

An den Checkpoints stehen Polizisten und Militärs, Männern in schwarzem Overall oder Camouflage, mit Kalaschnikows und Taschenlampen

Nur etwa fünf Stunden Strom am Tag habe er, sagt er. Wann, zu welchen Uhrzeiten, ist ein Ratespiel und im Vorfeld nicht bekannt. Das sorgt auch für Überraschungseffekte: wenn man etwa im Aufzug steht oder wenn der gerade hochgefahrene Computer gleich wieder dunkel wird. Oder wenn man frisch eingeseift unter der plötzlichen kalten Dusche steht. Denn auch Wasser wird mit Strom erwärmt und in die Leitungen gepumpt.

Und für unregelmäßigen Zugang zum Internet: Joumaa beugt sich nach hinten und greift zum Router, der auf dem Kaffeetisch liegt, schaltet ihn ein. Wenn die Elektrizität mal da ist, muss man sie nutzen: „Heute ist um 19 Uhr der Strom gekommen. Wir wissen nicht, wann er wieder weg sein wird. Manchmal schaltet er sich plötzlich um 4 Uhr morgens an“, sagt er etwas entmutigt.

Eine Flasche Gas kostet fast ein Monatsgehalt

Joumaa ist 47 Jahre alt, trägt den Kopf rasiert und eine blau gerahmte Brille. Er steht auf, geht in die Küche, schaltet die Espressomaschine an. „Nutzen wir den Strom“, sagt er, „für einen richtigen Espresso.“ Ist kein Strom da, kocht er mit Gas. Doch auch damit muss man in Syrien derzeit sparsam umgehen. Eine Flasche alle vier Monate bekomme Joumaa zu ermäßigten Preisen von staatlicher Stelle. Ist das Gas schneller alle, muss er sich an Privatanbieter wenden. Um die 18 Euro kostet eine Flasche Gas dann – etwa zwei Drittel des Monatsgehalts eines normalen Beamten. So arm sind die Sy­re­r*in­nen in den vergangenen Jahren geworden.

Leitungswasser werde in seinem Gebäude in einem großen Tank auf dem Dach gesammelt, sagt er, während die Kaffeemaschine brummt. Er zeigt auf die Decke der Küche, wo der Putz an mehreren Stellen abblättert. Eine Folge des Erdbebens im Jahr 2023. Mit der Renovierung wolle er abwarten, bis die Lage sicherer wird. Früher, als noch Krieg herrschte, hätte eine Bombe das neu reparierte Dach zerstören können. Und heute? So genau wisse man ja auch nicht, was komme, sagt er.

Immer wieder gibt es Luftangriffe im neuen Syrien: In einem luxuriösen Restaurant in der Altstadt, nicht weit von Joumaas Wohnung, servieren Kellner die Speisen auf Silbertabletts. Einer von ihnen, ein junger Mann, hält inne, dreht sich um zur Glasfassade: Sie vibriert. Dann klingt die Vibration ab, er dreht sich wieder um zu seinen Gästen. Eine mögliche Ursache: Wenige Kilometer entfernt wirft an diesem Abend ein israelisches Kampfflugzeug eine Bombe ab. Der Angriff gilt einer Forschungseinrichtung nahe Damaskus.

Solche Angriffe sind beinahe Alltag geworden. Sie richten sich gegen Infrastruktur der alten – und damit auch der neuen – Armee. Etwa vor einiger Zeit auf den Militärflughafen in der nördlicher gelegenen Stadt Hama, dessen Landebahn vollkommen vernichtet wurde. Im Süden rückt Israels Armee auch über die syrischen Golanhöhen hinaus weiter ins Land vor. In der Nähe der Stadt Dara’a starben jüngst etwa bei einem israelischen Angriff neun Menschen. Das israelische Militär erklärte, es habe terroristische Infrastruktur zerstören wollen und sei unter Beschuss geraten.

Mit den Bomben sendet Israel auch eine Botschaft an die Türkei. Denn diese würde Berichten zufolge gerne einige Militärbasen in Syrien nutzen. Und die Türkei ist ein Verbündeter der neuen syrischen Regierung – doch seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen im Oktober 2023 ein immer schärferer Kritiker Israels.

Gut 90 Prozent der Menschen leben in Syrien in Armut

Müsste man – etwa nach einem Angriff – ins Krankenhaus, offenbart sich eine weitere Problemstelle Syriens: das Gesundheitssystem. Um das zu erleben, muss man nicht in einem Angriff verletzt werden: Fängt man sich etwa durch unsauberes Leitungswasser oder kontaminiertes Gemüse einen Parasiten ein, ist der Weg zur Genesung lang, teils unerreichbar. Medizinische Tests und Medikamente sind nicht überall vorhanden. Und in den privaten Kliniken sind sie zwar verfügbar – doch teuer. Für Aus­län­de­r*in­nen kostet die Behandlung nicht viel, um die 30 Euro. Doch für viele Sy­re­r*in­nen ist das eine immense Summe.

Am Straßenrand sind außerdem improvisierte Verkaufsstände entstanden

Die neue Regierung hatte im Januar angekündigt, die Beamtengehälter – umgerechnet etwa 30 Euro – vervierfachen zu wollen. Doch das ist noch nicht passiert. Viele Menschen haben zwei, drei Jobs, um sich über Wasser zu halten. Da ist etwa die Tourismusstudentin, die tagsüber in Hotels und nachts in Lokalen arbeitet. Oder der Agrarwissenschaftler, der in seiner Freizeit als Taxifahrer Menschen in seinem alten Auto durch die Stadt kutschiert.

Der jahrelange Bürgerkrieg hat die Wirtschaft des Landes in die Knie gezwungen: Um 85 Prozent ist sie laut Weltbank geschrumpft. Gut 90 Prozent der Sy­re­r*in­nen leben laut Vereinten Nationen in Armut, ein Viertel hat keine Arbeit.

Einen Lichtblick gibt es doch: Die Preise von Lebensmitteln sind nach dem Fall Assads gesunken. „Früher kostete ein großer Karton Eier 50.000 syrische Pfund. Heute etwa 24.000“, sagt Joumaa. Umgerechnet sind das unter zwei Euro. Am Straßenrand sind außerdem improvisierte Verkaufsstände entstanden, oft mit importierten Waren und Nahrungsmitteln, etwa aus dem Libanon. Dass diese nun wieder ihren Weg nach Syrien finden, hängt auch mit dem Wegfall von Checkpoints der früheren syrischen Armee zusammen. An diesen hatte man stets Wegzoll entrichten müssen – in die Taschen der Uniformierten am Checkpoint.

Ein Problem bleiben die US-Sanktionen

Noch immer verhindern internationale Sanktionen, die Menschenrechtsverletzungen des Ex-Regimes bestrafen sollten, Investitionen. Die Europäische Union hat sie erst kürzlich in den Bereichen Energie, Verkehr und Bankwesen ausgesetzt. Die USA verhandeln noch.

Kein Wunder, dass weiter viele Sy­re­r*in­nen vom Auswandern reden. Doch Joumaa, der eigentlich Grafikdesigner ist, wegen der schlechten Wirtschaftslage aber kaum Aufträge bekommt, hofft trotz allem: dass er in dem neuen Syrien doch eine glänzende Zukunft hat – in Freiheit und Sicherheit und Wohlstand.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!