: Die erste mediale Revolution
Bis heute reichen die Wirkungen des Bauernkriegs von 1525. Die Aufstände waren ein epochaler Vorschein der Demokratie – und endeten in einer blutigen Katastrophe
Von Stefan Reinecke
Am 15. Mai 1525 vernichteten fürstliche Heere den von Thomas Müntzer angeführten Bauernhaufen in Bad Frankenhausen. Während Müntzer, ein begabter Redner, noch predigte, brach das kurfürstliche Söldnerheer den vereinbarten Waffenstillstand. Am Abend waren sechs Söldner tot – und 6.000 Bauern ermordet. Martin Luther, Begründer des deutschen Protestantismus, hatte sich auf die Seite der Macht geschlagen und gefordert, dass die Fürsten die Aufständischen „zerschmeißen, würgen, stechen und wie einen tollen Hund erschlagen“.
Bad Frankenhausen gilt gemeinhin als Ende des Bauernaufstands. Aber drei Tage nach dem Massaker in Thüringen eroberte ein großer Bauernhaufen Freiburg. Die Bauernkriege waren dezentral, sie erstreckten sich über zwei Jahre und reichten von Mitteldeutschland über den Bodensee bis Tirol. Die Aufstände hatten keine Anführer – oder eben sehr viele. Sie brachen spontan aus, sie organisierten sich selbstständig, ohne Oberkommando und Zentralkomitee. 300.000 Bauern verließen ihre Höfe und bewaffneten sich. Die Bauernkriege waren die größte Revolte in Europa vor 1789. Warum damals? Warum Deutschland? Gibt es einen deutschen Sonderweg, der in 1525 eine Wurzel hat? Wie schauen wir heute auf diese Revolte?
Zum Aufstand führten zwei parallele Umwälzungen: die Reformation und der Buchdruck, jene Gutenberg-Revolution, die die Gesellschaft so tief umpflügte, wie es die Digitalisierung im 21. Jahrhundert tut. Die Publikation des von Luther übersetzen Neuen Testaments 1522 auf Deutsch war der erste Bestseller der deutschen Geschichte. Die Luther-Bibel kodifizierte die deutsche Sprache, definierte Deutschland als kulturellen Raum, und demokratisierte ein Herrschaftsinstrument. Die Bauernbewegung, samt ein paar Pfarrern, Handwerkern und Minenarbeitern, schuf 1525 etwas unerhört Neues: eine politische Öffentlichkeit. In diesem für fast alle (Männer) zugänglichen Raum war jener herrschaftsfreie Diskurs möglich, der auch für moderne Demokratien fundamental ist. Die zwölf Artikel der Bauernbewegung, die unter anderem die freie Wahl der Pfarrer, die Abschaffung der Leibeigenschaft, Jagdrecht und niedrigere Steuern forderten, wurden zum medialen Ereignis. 25.000 Exemplare wurden in kürzester Zeit gedruckt und in Gasthäusern und auf Märkten vorgelesen. In einer Gesellschaft mit 90 Prozent Analphabeten war das spektakulär. Wissen wurde demokratisiert, die Zahl der Flugschriften wuchs rasant. Der Bauernaufstand, so der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, war „das erste medial angetriebene militärische und politische Großereignis der europäischen Geschichte“. Gewissermaßen – der erste Medienkrieg. Die Rache war extrem blutig. Erzherzog Ferdinand, Bruder des Kaisers, forderte, die Aufständischen „zu erwürgen, zu erstechen, zu verbrennen“, ihre „Höfe und Häuser zu verheeren und verderben“ und „ihre Weiber und Kinder zu vertreiben“. Ungefähr 100.000 Bauern wurden getötet, weniger in Schlachten als beim Abschlachten von Wehrlosen und Zivilisten. Nach der Niederlage zogen Exekutionskommandos durch das Land. Wer rebelliert hatte, musste extrem hohe Abgaben zahlen. Auch wenn diese Repressionen nicht die kalte Systematik des organisierten Massenterrors stalinistischer oder faschistischer Regime hatten – sie verströmten die gleiche, angsteinflößende Botschaft.
Wie die Bauernbewegung den Wechsel von dem euphorischen Bewusstsein, Autor der eigenen Geschichte werden zu können, zu Terror und blutigem Untergang erlebte, wissen wir nicht. Die bäuerliche Kultur war weitgehend schriftlos. Gerichtsdokumente Ende des 16. Jahrhunderts zeigen aber, dass der Bauernkrieg auch Generationen später in der oralen Überlieferung ein Davor und ein Danach markierte. Die blutige Lektion, so kann man vermuten, hinterließ eine albtraumhafte Erinnerung an die gnadenlose Wucht, mit der das Aufbegehren niedergewalzt worden war. Die Bauernkriege begannen als Aufstand des „gemeinen Mannes“ in Deutschland – und endeten in seiner Verwandlung in einen stummen, verängstigten Untertan. Es dauert mehr als 300 Jahre, bis sich 1848 in Deutschland eine Bewegung mit einem verwandten Impuls formierte. Der Bauernkrieg verformte auch den gerade begründeten Protestantismus. Er wandelte sich von einer herrschaftskritischen Religion zu einer obrigkeitsnahen Kirche. Luthers Hetze gegen die Bauern war der Keim der Fusion von feudaler Herrschaft und Protestantismus. Das Ergebnis war ein autoritärer Staat, den der Protestantismus „mit einer gewissen Halbgöttlichkeit“ umrankte, so der Theologe Ernst Troeltsch. Heiliger Staat, fromme Untertanen.
Die deutsche Linke hat den blutigen Untergang 1525 und Luthers Verrat als Urkatastrophe und Beginn einer speziell deutschen Misere gedeutet. In England 1688 und in Frankreich 1789 siegten antifeudale Revolutionen. Im föderal zersplitterten Deutschland hingegen scheiterten Revolutionäre regelmäßig, weil sich Moderate aus Angst vor der Unterschicht mit reaktionären Mächten verbündeten. Das mag den Reformator Martin Luther mit dem SPD-Politiker Gustav Noske verbinden, der nach der Novemberrevolution 1918 mit Rechtsradikalen paktierte. Dieses Muster wiederholte sich – im auf halber Strecke liegen gebliebenen demokratischen Aufstand 1848. Ebenso im 20. Jahrhundert, wenn man 1933 als konterrevolutionäre Antwort auf 1918 versteht. Der Dramatiker Heiner Müller, Experte für deutsches Unglück, glaubte, der in Blut ertränkte Aufstand 1525 habe den deutschen Nationalcharakter zermahlen.
Diese linke Misere- oder Sonderwegthese war eine Art Meistererzählung. Sie erklärte die deutsche Neigung zu Autoritätshörigkeit und dem Anzetteln von Weltkriegen aus einem Mangel an erfolgreichen Revolutionen. Diese These ist ziemlich rückstandsfrei in Vergessenheit geraten. Das hat zwei Gründe. Sonderwegthesen setzen die Existenz einer Norm bürgerlicher Nationalstaaten voraus, auf deren Folie Deutschland als Abweichung erscheint. Das ist zu Recht als schablonenhaft kritisiert worden. Dass es mit der Demokratie in den Modellstaaten Frankreich, Großbritannien und USA auch nicht zum Besten steht, macht Sonderwegthesen derzeit nicht unbedingt plausibler. Vor allem aber ist die Sonderwegthese von einer anderen, optimistischen Meistererzählung verdrängt worden. Der sozialdemokratische Historiker Heinrich August Winkler hat maßgeblich die These entwickelt, dass Deutschland nach 500 Jahren und vielen Verirrungen im Westen angekommen ist. Die Bundesrepublik ist ein demokratischer Verfassungsstaat geworden, verbündet mit USA, Frankreich, England, den Geburtsländern westlicher Werte.
Stefan Reinecke arbeitet im taz-Parlamentsbüro mit den Schwerpunkten SPD, Linkspartei, Demokratie.
In dieser Erzählung erscheint die Bundesrepublik als das moralisch gebotene, politisch logische Ergebnis eines schmerzlichen Lernprozesses. Seit der Wiedervereinigung ist die Bundesrepublik in ihrem Selbstbild endgültig zur normalen Nation geworden, glücklich angekommen und fest vertäut im angelsächsischen Westen. Alles fügte sich zu einer rundum stimmigen Erzählung. Wahrscheinlich kann man Winkler als Pendant zum amerikanischen Sozialwissenschaftler Francis Fukuyama verstehen. Der hatte in „Das Ende der Geschichte“ 1992 den Sieg des Westens und der global alternativlos gewordenen liberalen Demokratien gefeiert. Diese Prognose ist nicht gut gealtert. Es kann sein, dass auch die Meistererzählung der glücklichen Ankunft Deutschlands im Westen gerade rapide vergilbt.
Der Boden, auf dem die bundesdeutsche Demokratie 2025 steht, ist porös. Das Bündnis mit dem großen Bruder USA löst sich. Die Rolle des demokratischen Musterschülers ist ausgespielt. Der Westen, der fast teleologisch überhöhte Fluchtpunkt deutscher Geschichte, war vielleicht ein Trugbild. Alles beginnt zu rutschen. Damit ändert sich auch die Perspektive auf 1525. Wir erzählen nicht mehr aus sicherer Position und vom guten Ende her. Das ist ein Grund, ein paar selbstkritische Fragen zu stellen. Warum, zum Beispiel, hat sich die demokratische Mitte so wenig für die Revolte interessiert? Die Nazis verzerrten 1525 zu einem völkischen Kampf des deutschen Bauerntums. Die historische Arbeiterbewegung sah im Bauernkrieg Vorbilder. Daran anknüpfend dogmatisierte die SED Thomas Müntzer zu einem Ahnen von Karl Liebknecht. In der DDR „erfüllen sich die Sehnsüchte der Akteure des deutschen Bauernkrieges“, hieß es in dem 1987 erschienenen „Der deutsche Bauernkrieg“. Diese Indienstnahme zeigte, wie krampfhaft die DDR historisches Erbe besetzen musste, um die eigene Legitimität zu stützen. In der Bundesrepublik interessierte man für 1525 eher routiniert. Man wollte das Feld ungern der DDR-Forschung überlassen.
Die demokratische Mitte hatte und hat ein weitgehend indifferentes Verhältnis zu 1525. Die bürgerlichen Revolutionäre von 1848 wurde mittlerweile in den Kanon aufgenommen. In ihren Zielen, Verfassungsstaat und Wahlrecht, konnte man sich recht einfach spiegeln. 1525 aber ist für bundesdeutsche Mitte-Demokraten ein verwirrendes Ereignis. Luther, als zentraler Akteur der Reformation eigentlich Heldenfigur, tritt in der Rolle des Schurken auf. Müntzer ist als Identifikationsfigur zu radikal, esoterisch, streitlustig, zudem mit der DDR verknüpft.
Die Bundespräsidenten Gustav Heinemann, Johannes Rau und zuletzt Frank-Walter Steinmeier haben versucht, mit zugewandten Reden, diese Lücke zu füllen. Sie haben – als sozialdemokratische Protestanten mit dem nötigen Sensorium ausgestattet – 1525 als „Teil deutscher Freiheitsgeschichte“ und die zwölf Artikel als Vorschein der universellen Menschenrechte sichtbar gemacht. Das war nötig und löblich, aber von begrenzter Reichweite. Das Interesse ist übersichtlich. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die kreativste Deutung des Bauernkrieges 2025 von keinem deutschen Professor stammt, sondern von Lyndal Roper, einer australischen Historikerin, die in Oxford lehrt. Es hagelte in der deutschen Geschichte nicht gerade Ereignisse, die einem republikanischen Selbstverständnis als ferner Spiegel dienen können. Darin haben die Vertreter der Sonderweg-Erzählung recht. Es ist Zeit, die radikaldemokratischen Momente in der deutschen Geschichte mehr zu schätzen. Es gibt nicht so viele davon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen