Doku „Tardes de soledad“ über Stierkampf: Eleganz der Tierquälerei
Der Regisseur Albert Serra dokumentiert im Film „Tardes de soledad“ die Absurdität des Stierkampfs. Er zeigt Brutalität, Narzissmus, Mut und Triumph.

Es war eine kluge Entscheidung von Albert Serra, die Protagonisten in seinem Dokumentarfilm „Tardes de soledad – Nachmittage der Einsamkeit“ allesamt mit Ansteckmikrofonen zu versehen, ehe sie ein ums andere Mal die Stierkampfarena betreten und ihre grausige Show darbieten. Ansonsten gäbe es kein Zeugnis von der unfreiwilligen Komik, die sich unter den Toreros, den spanischen Stierkämpfern, abspielt, wenn das blutige Schauspiel vollbracht ist.
„Du hast solche Eier“, „Danach wollen alle dir einen blasen“, „Deine Eier sind größer als die ganze verdammte Arena“, Sätze wie diese rufen sie ihrem Matador zu, dem Torero, der mit dem Stier tanzt und ihm am Ende des Kampfes mit dem Degen den Todesstoß versetzt.
Die Kamera hat bis dahin in steter Genauigkeit und äußerster Geduld das nach strengen Regeln ablaufende Spektakel verfolgt. Wie der Stier zunächst vom Pferd aus mit einem Lanzenstoß im Nackenbereich verletzt wird. Wie ihm darauf mit bunten Bändern versehene Spieße in den Rücken gestoßen werden, sodass ihm das Blut den ganzen Körper hinunterläuft. Wie der Matador mit dem Stier unter Einsatz der Muleta, des dunkelroten oder rosafarbenen Tuchs, zu tanzen beginnt. Und wie er schließlich seinen Mut oder wahlweise seine großen Eier beweist, indem er dem geschwächten und gequälten Stier den Degen in den Nacken rammt und dieser langsam zusammenbricht, bis das Licht in seinen Augen gänzlich erloschen ist.
Albert Serra hat mit dieser radikalen und provokativen Darstellung einen Film geschaffen, wie er kaum auszuhalten ist.
„Tardes de soledad – Nachmittage der Einsamkeit“. Regie: Albert Serra. Spanien/Frankreich/Portugal 2024, 125 Min.
Im Zentrum von „Tardes de soledad“ steht der peruanische Star-Matador Andrés Roca Rey, der von einer spanischen Stierkampfarena zur nächsten tourt. Die Dramaturgie des Films ist dabei ganz simpel. Neben den Szenen in den Arenen begleitet die Kamera Rey auf seinen Fahrten im Tourbus und in den Fünf-Sterne-Hotels, in denen er sich für den nächsten Kampf vorbereitet und sich in seine bunten Kostüme zwängt. All das zeigt Serra in Großaufnahmen. Nie ist das Publikum oder die komplette Arena zu sehen.
Sich Zeit für das Erzählen lassen
Der formstrenge Film verweigert sich jeglicher Kontextualisierung. Es gibt keine Interviews, man erfährt nichts über seinen Protagonisten. Wie schon in seinen vorherigen Spielfilmen, etwa in „Pacifiction“ oder „Der Tod von Ludwig XIV.“, lässt sich Serra Zeit für das Erzählen, um genau hinzuschauen. Es passiert wenig in den rund zwei Stunden, aber dieses wenige gibt Raum für Gedanken.
Was geht Rey durch den Kopf, wenn er mit Schweißperlen auf der Stirn im Bus sitzt, gemeinsam mit seiner Torero-Entourage, die ihn unentwegt in den Himmel lobt? Ist er genervt, oder ist das Streicheln des Egos unabdingbar für den Narzissmus eines gefeierten Stierkämpfers? Wenn die Kamera ihn beim Tanz mit dem Stier in den Fokus nimmt, scheinen sich die Rollen von Mensch und Tier umzukehren. Sein Gesicht verformt sich zur animalischen Fratze, während sich in den dunklen Augen des mit dem Tod kämpfenden Stieres eine tiefe Anmut ausdrückt.
Gleichzeitig steckt in dem Machismus, der sich auf dem sandigen Boden der Arenen Bahn bricht, etwas zutiefst Homoerotisches. Das liegt nicht nur an der unentwegten Lobpreisung männlicher Geschlechtsorgane, sondern vor allem an den schmuckvollen Kostümen der Toreros, die angesichts der verübten Grausamkeit grotesk wirken.
Wenn sich Rey im Hotelzimmer gleich einem Ritual die weiße Strumpfhose über seinen jungenhaften Körper bis zur Brust hochzieht oder sein Assistent ihm die mit floralen Stickmustern versehene, hautenge und glitzernde Hose wie einen Rock über die Beine stülpt, lässt das an die Vorbereitungen einer Dragqueen denken. Seine pinken Socken, die Ballerina-Schuhe und der schwarze Hut, der an Mickey-Mouse-Ohren denken lässt, tun ein Übriges.
Der Matador beginnt mit seinem Tanz
Einen gewissen Mut kann man dem eitlen, erst 28-jährigen Andrés Roca Rey nicht absprechen, wenn er nach einem weiteren Kampf, der sogenannten Corrida, in seinem blutbefleckten Kostüm dem applaudierenden Publikum dankt und der tote Stier neben ihm von zwei Pferden aus der Arena gezogen wird. Der Stier mag zwar durch die Zurichtungen seiner Torero-Kollegen geschwächt sein (erst, wenn sich sein Kopf durch die Nackenverletzungen fast bis zum Boden gesenkt hat, beginnt der Matador mit seinem Tanz), doch das wuchtige Tier ist nach wie vor gefährlich.
Wenn Rey sein Kreuz durchdrückt und auf Zehenspitzen den Stier in einer Kreisbewegung mit dem Muleta dirigiert, passieren auch ihm Fehler, die ihn das Leben kosten können und den Atem der Zuschauer:innen stocken lassen.
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Trailer „Tardes de soledad“

„Tardes de soledad“ ist ein so faszinierender wie fesselnder Dokumentarfilm, der die Gemüter spaltet. Warum sollte der aus der Zeit gefallenen Tierquälerei solch eine Aufmerksamkeit geschenkt werden? Albert Serra entzieht sich einer Wertung oder eines Urteils, er beobachtet nur. Und diese Beobachtung offenbart die Absurdität des Stierkampfs, wie man sie selten gezeigt bekommt. Es geht um Mut und Ehre. Eleganz und Brutalität. Narzissmus und Triumph.
Abgesehen davon wissen wir am Ende nur wenig über Andrés Roca Rey, der als „Messi der Matadore“ bezeichnet wird und dessen Stierkämpfe im Nu ausverkauft sind. In diesem Zusammenhang hat es durchaus etwas Ironisches, dass Rey, wie Albert Serra jüngst in einem Interview offenbarte, vom Film anscheinend enttäuscht ist. Der Grund: Er sei ihm zu brutal.
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