Regisseurin Nguyen beim Festival FIND: Die Freiheit der Fiktion
Sich der Komplexität der Realität stellen: Die französische Theatermacherin Caroline Guiela Nguyen inszeniert drei Stücke an der Schaubühne Berlin.

Sie ist eine Geschichtenerzählerin. Ihre sind Geschichten, die Gemeinschaft zwischen den Erzählenden und den Zuschauenden stiften. So sieht sich Caroline Guiela Nguyen in erster Linie, als Autorin. Dann als Regisseurin ihrer eigenen Stücke. Und schließlich als Leiterin eines Theaters, des Théâtre National de Strasbourg, dessen Intendantin sie seit 2023 ist.
Der Schaubühne in Berlin ist die französische Künstlerin schon seit einigen Jahren verbunden. Dieses Jahr ist sie als „Artist in Focus“ mit drei Stücken zu FIND, dem Festival Internationaler Neuer Dramatik, eingeladen. Ihre Inszenierungen sind fast immer vielsprachig: Schon in ihrem Sound führen sie in die geopolitischen Verflechtungen von globalisierten Märkten und Migration, deren Auswirkungen für das Leben der Einzelnen sie bis in intime Situationen hinein verfolgt.
Alle ihre Stücke sind somit ein programmatisches Signal gegen eine nationale und nationalistische Verengung von Erzählungen (in Frankreich und anderswo). Sie wenden sich gegen eine Entwertung von Wirklichkeit und eine Negierung von Komplexität, die die Theatermacherin sowohl in den rechtsgerichteten Kräften der Politik am Werk sieht, als auch in den vereinfachten und einseitigen Weltbildern der sozialen Medien, in denen Meinung zu schnell den Blick auf die Wirklichkeit ersetzt.
Sinnliches und zugängliches Theater
Die Mittel, mit denen sie in ihren Inszenierungen dagegen hält, sind sinnlich und von großer Zugänglichkeit. Die Szenen sind oft alltagsnah, das Bühnenbild detailreich, die Spielenden beschäftigt mit konkreten Gegenständen, so dass immer wieder ein Wimmelbild entsteht. Ihre Bühnenbildnerin Alice Duchange, so erzählt Nguyen im Gespräch im Schaubühnen-Café, baue auch Details ein, die das Theaterpublikum gar nicht sehe, die aber den Darsteller:innen auf der Bühne helfen, sich glaubwürdig in ihre Rollen hineinzuarbeiten.
Stücke von Caroline Guiela Nguyen beim Festival FIND an der Schaubühne Berlin: „Valentina“, 9. 4. und 10. 4. 2025; „Saigon“, 12. 4. und 13. 4. 2025
Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sich Nguyen für jede Inszenierung neben einigen Stammschauspieler:innen auch neue Darsteller:innen sucht, entsprechend der Geschichte. Das sind teils auch Amateure. Die bringen dann nicht nur ihre eigene Sprache mit, sondern teilen auch Erfahrungen mit ihren Rollen.
Aber das hat auch zu einer Einordnung ihrer Theaterarbeit geführt, die Nguyen zu einseitig ist. 2018 entstand ihr erfolgreiches Stück „Saigon“, das sie auch diesmal wieder in Berlin zeigt. Es spielt in Paris und in Saigon in einem vietnamesischen Restaurant und reflektiert Kolonial- und Einwanderungsgeschichte. Seitdem gilt sie als Spezialistin für migrantische Themen und ihre Arbeit als Dokumentartheater. Aber diese Einordnung ist ihr zu eng, ihre Geschichten sind auch fiktional und die Schauspieler:innen, die oft mehr als eine Rolle übernehmen, gehen damit auch weit über ihre Biografien hinaus.
Auf Dokumentartheater festgelegt
Das ist für Caroline Guiela Nguyen ein wichtiger Punkt, denn sie findet es falsch und begrenzend, dass auf vielen Bühnen Frankreichs, Künstler:innen, die mit einem rassifizierenden Blick wahrgenommen werden, festgelegt werden auf Dokumentartheater und Herkunftsgeschichten. Was sie erzählen können und bei Nguyen erzählen, ist aber viel mehr.
Caroline Guiela Nguyen wurde 1981 geboren und wuchs in Südfrankreich auf, Tochter einer französisch-vietnamesischen Mutter und eines Vaters, der als sephardischer Jude aus Algerien nach Frankreich gekommen war. Herkunft zu erkunden, war für sie ein wichtiges Thema einerseits, um gegen die Lücken anzuarbeiten, die zum Beispiel durch das Nicht-Thematisieren französischer Kolonialgeschichte entstanden waren. Andererseits galt es, sich gegen die Erzeugung von Stereotypen zu wehren, die der Herkunft angeheftet werden. Dieser Spagat begleitet sie in ihren Stücken.
Ihre Arbeiten sind von einer berührenden Emotionalität. Vor drei Jahren kam sie mit „Fraternité“ zum Festival FIND, eine Bündelung von Geschichten um Verluste von geliebten Menschen, um Trauer und um die Suche nach Trost, eingebunden in eine Science-Fiction-Story. In „Lacrima“ erzählt sie von der Herstellung eines prächtigen Brautkleids in einem Pariser Modeatelier.
Die Stickerinnen von Alencon
Sie taucht ein in die Geschichte der Stickerinnen von Alençon, deren Konzentration bei der Arbeit so groß ist, dass man Sorge tragen muss, dass sie das Atmen nicht vergessen. Im Video erlebt man eine wirkliche Stickerin, die mit ihrer Tochter in der Gebärdensprache redet, denn tatsächlich wurden in dem Gewerbe viele Taube beschäftigt, weil man davon ausging, dass sie sich nicht durch Reden ablenken.
Nguyen erzählt auch von einem Perlensticker in Mumbai, der über seiner Arbeit erblindet, auch weil er, um eine Frist einzuhalten, viel zu lange gearbeitet hat. Sie beleuchtet die Ausbeutung durch die zwischen Frankreich und Indien bestehenden Arbeitsbedingungen, aber auch den Stress, der die Leiterin des Modeateliers in Paris zusammenbrechen lässt. Einzelne Abschnitte sind wie Exkurse gebaut, die in die Geschichte eines Handwerks tauchen.
Im gesellschaftlichen Diskurs auch hier in Deutschland ist viel von mangelnder Wertschätzung der Arbeit die Rede. In den Künsten wird dagegen vermehrt der Fokus auf handwerkliche Traditionen, die Weitergabe von Wissen mit speziellen Techniken betont. Das war für Caroline Guiela Nguyen zwar zunächst nicht der Ausgangspunkt für „Lacrima“; aber rückte dann doch immer mehr in den Fokus, je mehr sie während ihrer Recherchen über die Spitzenstickerinnen aus der Normandie und die Perlensticker aus Mumbai erfuhr. Jetzt setzt ihnen das Stück ein lebendiges Denkmal.
Profis und Amateure
Nguyens Inszenierungen leben auch davon, dass man den vielsprachigen Cast, zusammengesetzt aus Profis und Amateuren, mit sehr jungen und sehr alten Darsteller:innen, auch als eine Gemeinschaft erlebt, die sich dabei unterstützt, ihre Geschichte zu erzählen. Der detailfreudige Realismus, mit dem die Ensembles dabei arbeiten, wurzelt für die Regisseurin auch noch in einer speziellen Erfahrung.
Acht Jahre lang hat sie mit Langzeitgefangenen in einer Haftanstalt in Arles gearbeitet. „Für die war die Glaubwürdigkeit ihrer Rolle“, so beschreibt es Nguyen, „eine Lebensnotwendigkeit. Die Fiktion war ihr einziges Mittel, woanders zu sein, außerhalb des Gefängnisses.“ Auch aus diesem Erleben heraus ist ihr die Freiheit der Fiktion wichtig.
Caroline Guiela Nguyen arbeitet lange an ihren Stücken, oft zwei Jahre. „Ich bin keine Maschine“, kommentiert sie das, auch mit Seitenblick auf einen Theaterbetrieb, der stets Neues verlangt. Dass ihr jüngstes Stück „Valentina“ ein Jahr nach „Lacrima“ zur Premiere kommt, ist eine Ausnahme. Noch vor seiner Uraufführung in Straßburg in zwei Wochen wird es als Vorpremiere an der Schaubühne gezeigt.
Wieder liegt ein Fokus auf der Sprache, wo sie Zugang zu einer Welt und Gesellschaft schafft und wo Sprachgrenzen zu sozialer Ausgrenzung führen. Erzählt wird von einer Mutter und ihrer Tochter, die aus Rumänien nach Frankreich gekommen sind. Die Tochter muss für die Mutter dolmetschen, auch als es um eine lebensbedrohliche Krankheit geht.
Die öffentlichen Sozial- und Gesundheitssysteme trügen der Tatsache, dass viele Menschen in Frankreich nicht oder nicht gut genug Französisch könnten, zu wenig Rechnung. Dolmetscher fehlten zu oft, Kindern werde so viel aufgebürdet; dieser Befund hat Nguyen zu dieser Geschichte gebracht.
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