Jüdischer Widerstand gegen die Nazis: Das Mädchen, der SA-Mann und das Messer
War jüdischer Widerstand die Ausnahme? Wie mutig sich Jüdinnen und Juden gegen die Nazis gewehrt haben, zeigen neue Forschungen.

Als Daisy Gronowski am 10. November 1938 die Hausglocke hört, macht sie sich auf in den Versammlungsraum. Unten angekommen trifft die 17-Jährige aber nicht nur andere jüdische Jugendliche. Da sind auch die Nazis von der SA, die in den Raum eingedrungen sind und nun damit beginnen, die Einrichtung systematisch zu zerstören, Stuhl um Stuhl, Tisch um Tisch.
Daisy Gronowski, aus wohlhabendem Elternhaus in Berlin stammend, ist im selben Jahr in den Westen Deutschlands gekommen, in ein Bauerndorf namens Urfeld, zwischen Köln und Bonn am Rhein gelegen. Zusammen mit anderen jüdischen Jugendlichen absolviert sie auf einem Gut eine landwirtschaftliche Ausbildung. Hachschara, Hebräisch für Vorbereitung, werden solche Kurse genannt, die auf ein künftiges Leben in Palästina einstimmen sollen. Daisy Gronowski weiß, dass sie in Nazideutschland keine Zukunft hat. Sie träumt davon, in Palästina den Sozialismus aufzubauen.
Nach der Einrichtung sind die jüdischen Jugendlichen dran, entscheiden die SA-Männer. Sie bilden zwei Reihen und zwingen die Jungs und Mädchen, dazwischen zu laufen, während Stockschläge auf sie niederprasseln. Viele Jugendliche bluten aus ihren Wunden. Die Reihe kommt an Daisy Gronowski. Sie erinnerte sich: „Zur Hölle, ich will da nicht rennen. Ich werde gehen. Da bin ich, gut 1,50 Meter groß, ein schlankes kleines Mädchen.“
Sie sei langsam an den Reihen vorbeigelaufen und habe jedem SA-Mann ins Gesicht geschaut. Am Ende der Reihe greift sie ein Nazi an. Er verletzt ihre rechte Hand mit einem Messer. Dann geschieht etwas, mit dem die SA nicht gerechnet hat: Daisy wehrt sich. Sie greift die Beine des SA-Manns, rammt ihren Kopf gegen seinen Magen, so wie sie es im Selbstverteidigungskurs gelernt hat, ringt ihm das Messer ab und rammt die Klinge in seinen Körper. Der Angreifer lässt von ihr ab und wird ohnmächtig.
Postkarten, auf denen er die Nazis schmähte
Wolf Gruner erzählt die Geschichte von Daisy Gronowski auf einer Fachtagung in Berlin, zu der die Gedenkstätte „Stille Helden“ geladen hat. Sie erinnert an die Hilfe für verfolgte Jüdinnen und Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Gruner, Professor in Los Angeles, hat sich jahrelang durch historische Polizei- und Gerichtsakten gewühlt und Interviews Verfolgter ausgewertet, um herauszufinden, ob und wie sich Jüdinnen und Juden in Deutschland gegen die Nazis gewehrt haben.
Hunderte solcher Fälle hat er aufgespürt. Bisher sei jüdischer Widerstand eher als Ausnahme betrachtet worden, sagt Gruner in Berlin. Individueller Widerstand sei übersehen worden. Dabei, sagt Gruner, saßen im Herbst 1942, als ein Teil der deutschen Jüdinnen und Juden bereits in Lagern und Ghettos ermordet worden war, 1.200 von ihnen wegen politisch motivierter Vergehen in Gefängnissen ein.
Hans Oppenheimer etwa, im Jahr 1940 war er 17 Jahre alt geworden. Die Nazis hatten ihn zur Zwangsarbeit eingeteilt. Ab diesem Herbst ging Oppenheimer durch die Straßen seiner Heimatstadt Frankfurt am Main und löste an den entsprechenden Meldeboxen immer wieder falschen Feueralarm aus, um den Nazis eins auszuwischen. Der 1897 geborene David Bornstein begleitete seine Frau zum Busbahnhof – und nutzte die Gelegenheit, um das Hakenkreuz vom Lack des Busses zu kratzen.
Benno Neuburger war schon über 70 Jahre alt, als er damit begann, Postkarten in Briefkästen zu werfen, auf denen er die Nazis schmähte. „Der ewige Massenmörder Hitler, Pfui!“, stand da etwa. Max Mannheimer riss die Schilder, die Juden am Betreten eines Parks hindern sollten, aus dem Boden heraus und warf sie in eine Ecke.
Es sind diese Nadelstiche, die Gruner bei seiner Recherche dokumentiert hat. Sie machen deutlich, dass die Verfolgten sich eben nicht wie die Lämmer zur Schlachtbank haben führen lassen, wie es oft genug kolportiert worden ist. Laut Gruner habe sich dieser individuelle Widerstand von Jüdinnen und Juden nicht sehr von Aktionen nichtjüdischer Deutscher unterschieden. Gruner sagt, er habe auch keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder nach dem Alter finden können.
Die Strafen für die antifaschistischen Aktionen waren höchst unterschiedlich. Bornstein kam für fünf Wochen ins Gefängnis und danach in ein Konzentrationslager. Doch er konnte sich später nach Palästina retten. Neuburger wurde 1942 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Oppenheimer wurde zunächst in Haft genommen und kam danach nach Auschwitz. Anfang 1943 ist er dort ermordet worden.
Aus dem Ghetto von Nowogródek entkamen etwa 170 Menschen
In Deutschland war der Widerstand besonders risikoreich, weiß der Historiker Stephan Lehnstaedt, weil die hiesige nichtjüdische Bevölkerung zu großen Teilen mit den Nazis sympathisierte. Lehnstaedt lehrt Holocaust-Studien in Berlin. „Der vergessene Widerstand“ lautet der Titel seines gerade erschienenen Buchs.
Extrem gefährlich sei der Widerstand aber auch in den von der Wehrmacht besetzten Ländern gewesen. Dort stieß jüdische Gegenwehr, häufig begangen von zionistisch orientierten Jugendgruppen, nicht nur auf Zustimmung. Gerade in den Ghettos Osteuropas fürchteten die „Judenräte“ die Rache der Nazis. Große Teile der dort lebenden Menschen klammerten sich an die Hoffnung, sie könnten ihr Leben retten. So musste die jüdische Untergrundbewegung in Vilnius einen Aufstand abblasen, weil sie dafür viel zu wenig Rückhalt erhielt. Zudem bestand außerhalb der Ghettos das hohe Risiko, von einheimischen Antisemiten denunziert zu werden.
Andererseits ist es gerade in Osteuropa im Angesicht der bevorstehenden Ermordung zu wahrlich heldenhaften Widerstandsaktionen gekommen, die in Deutschland so gut wie unbekannt geblieben sind. Etwa in der heute belarussischen Kleinstadt Nowogródek, in der 1943 nach Massenmorden durch die Nazis laut zeithistorischen Angaben nur noch 237 jüdische Menschen lebten.
Sie wussten, was ihnen bevorstand. Sie gruben einen 250 Meter langen Tunnel mit nur 70 Zentimeter Durchmesser, der aus dem Ghetto heraus führte. Dann stimmten sie ab: Mit 165 zu 65 Stimmen votierte die Gemeinde für den Ausbruch. Es entkamen etwa 170 Menschen, viele von ihnen schlossen sich jüdischen Partisanen an.
Deren Widerstand gründete weniger auf der Vorstellung, Nazis und Wehrmacht angreifen zu wollen, als auf purem Überlebenswillen. Lehnstaedt zitiert Rosa Selenko aus Belarus: „Aus patriotischen Gefühlen heraus wäre ich sicher nicht zu den Partisanen gegangen. Ich bin zu den Partisanen gegangen, um mein Leben zu retten. Das war die einzige Chance.“
Der Organisator des Tötens wurde schwer verletzt
Rettungswiderstand nennen Historiker den Versuch, das eigene Leben zu bewahren, etwa durch Verstecken im Untergrund. Das andere waren Aktionen in schierer Ausweglosigkeit. Markus Roth vom Frankfurter Fritz Bauer Institut hat dazu bei Recherchen in zeitgenössischen Ermittlungsakten ein beeindruckendes Beispiel aus der polnischen Kleinstadt Miechów entdeckt.
Dort organisierte der stellvertretende Kreishauptmann Friedrich Schmidt einen Massenmord an den einheimischen Juden. Am 18. November 1942 umstellte die Polizei das Ghetto. Gruppenweise wurden die Menschen in einen Wald gebracht, wo man zuvor eine Grube hatte ausheben lassen. Die Opfer wurden erschossen. Schmidt beteiligte sich selbst an den Morden.
Doch einer der Todeskandidaten, ein junger Mann, dessen Name unbekannt geblieben ist, wehrte sich. Mit einem in den Wald geschmuggelten Messer griff er Schmidt an. An diesem Tag wurden 300 bis 400 Jüdinnen und Juden aus Miechów ermordet. Und der Organisator des Tötens schwer verletzt.
Es gab in Osteuropa vermutlich viele solcher Attacken im Moment totaler Ausweglosigkeit. Doch die meisten seien wohl bis heute unbekannt geblieben, sagt Roth.
Im Westen Europas waren Widerstandsaktionen durch die Tatsache begünstigt, dass dort Juden weniger isoliert lebten und der Antisemitismus nicht so stark ausgeprägt war. Jüdische Frauen organisierten in Frankreich zahlreiche mutige Rettungsaktionen, bei denen besonders Kinder vor der Deportation bewahrt werden konnten.
Dennoch seien die Aktionen der Männer dort bis heute bekannter, weil bei diesen häufigen Waffen zum Einsatz kamen, berichtet Lilly Maier von der Uni München, die ihre Dissertation vorbereitet. Ähnlich wie in Osteuropa waren besonders zionistische Gruppen im Kampf gegen die Nazis beteiligt. Als sie mit ihrer Arbeit in Vichy-Frankreich begannen, war diese noch halbwegs legal. Sie machten auch dann weiter, als die Hilfen streng verboten waren, erzählt Maier.
Viele der Juden im Widerstand haben ihren Einsatz nicht überlebt. Einige aber konnten sich retten. So wie Daisy Gronowski. Das Mädchen mit dem Messer schaffte es nach London und später in die USA. Ihre Eltern und ihre Schwester wurden dagegen im Holocaust ermordet.
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