: Zwischen Angst und Widerstand
Wenn aus dem Gefühl der Ohnmacht vor dem zunehmenden Rechtsruck der Gesellschaft antifaschistischer Aktivismus wird: Gedicht einer 16-jährigen Berliner Schülerin
Von Rosa Mayu
„Deutschland hat gewählt.“
So beginnt er, mein Politik- und wohlgemerkt auch Geschichtslehrer, den Unterricht. / Der blaue, viel zu lange Balken an der Tafel ist nicht zu übersehen. / Wir sollen Gedanken äußern. / Unsere Gedanken. Zum Wahlergebnis, der Zukunft, dem Rechtsruck. / Gedanken, die die Lage der Gesellschaft manifestieren: Dieser Gesellschaft, in der sich immer mehr Hass durchsetzt, Menschen auseinandergehen, statt zueinander zu finden. Dieser Gesellschaft, die abdriftet, in der die Grenzen des Sagbaren verschoben werden und die sich hinter ideologischen Mauern verschließt.
Und erneut kommt das Gefühl hoch, das in letzter Zeit so oft aufsteigt, sobald es um unsere politische Lage geht: Angst. / Und viele können das Gefühl nicht teilen…
Da ist ein Geschichtslehrer, der sagt, dass er keine Gefahr für Deutschland vom Faschismus ausgehend sehe. Angst. / Ein Mitschüler, der Links- und Rechtspopulismus ja gleichermaßen ablehne. Vom Geschichtslehrer keine Reaktion, keine Aufarbeitung, die nach dieser Aussage nötig gewesen wäre. Angst. / Angst. Auch vor den Menschen da draußen. / Sie, die „Wehret den Anfängen“ sagen, während ihnen mein Name Grund genug ist, mich zu hassen. Angst. / „Nie wieder“ heißt es dann, während man bereitwillig Faschisten die Tore der Parlamente öffnet. Angst.
Angst, in einer Gesellschaft alt zu werden, in der ich mich nicht mehr sicher fühlen kann. / In der sich jene grausamen Jahre voller Verbrechen an der Menschlichkeit wiederholen, in der der Verlust jeglichen menschlichen Mitgefühls zum Drastischsten führt.
Angst, dass sich das Miteinander so weit verschiebt, dass die einst demokratische Gesellschaft nicht wiederzuerkennen ist./ Ich habe auch Angst, weil ein Noch-Kanzler einer angeblich „linken Volkspartei“ im großen Stil abschieben will. Weil eine ursprünglich grüne Partei endgültig auf den Zug der Rüstungsindustrie aufspringt./ Weil sich die Realität verzerrt, der zehnte Antrag zum Gendern der AfD wichtiger wird als das tägliche Morden an europäischen Außengrenzen.
Und dann ist da das Gefühl, dass man Menschen verliert. An hasserfüllte Ideologien, die es sich langsam in ihren Köpfen einrichten. / Menschen, die nicht mehr mit ihrem Selbsthass leben können und deshalb ihrer Zukunftsangst entgehen wollen, indem sie sie auf andere abwälzen. Die sich verstecken und sich von ihrem Weltschmerz verbittern lassen.
Insofern spüre ich fast dieselbe Angst wie sie, die Faschisten, doch führte mich dieser Weltschmerz genau dorthin, wo ich hingehöre: zum antifaschistischen Aktivismus./ Der Aktivismus befreite mich aus dem Gefühl der Ohnmacht, das mich davor bestimmt hatte, befreite mich aus den Fängen der Untätigkeit./ Er hat mir gezeigt, dass jede doch so kleine Aktion wesentlich ist, vor allem in politisch angespannten Zeiten. / Der mich mit so vielen wunderbaren Genoss:innen zusammenbrachte, die ein wichtiger Teil meines Lebens geworden sind./ Der Aktivismus ist ein Teil von mir geworden. Von mir, als migrantischer Person, der immer mehr Hass entgegenkommt und die das nicht akzeptieren kann und will./ Die nicht in einer Gesellschaft leben will, in der die Menschen mehr wert sind, die mehr Geld haben, weiße Haut, einen deutschen Namen./ Und der es nicht mehr genug ist, es einfach hinzunehmen. Die es nicht einfach runterschlucken will und abwarten, bis alles irgendwann besser wird./
Meine Angst gab mir Hoffnung./ Hoffnung, mit vereinten Kräften noch etwas ändern zu können./ Hoffnung, eines Tages in einer klassenlosen Gesellschaft zu leben, in der man nicht mehr vom „bösen Fremden“ spricht und endlich lieben lernt.
Rosa Mayubesucht die 10. Klasse eines Gymnasiums in Wedding. Die 16-Jährige engagiert sich in einer sozialistischen Jugendorganisation.
Hoffnung, dass das Denken siegt./ Hoffnung, dass die Utopien aller Genoss:innen, ob damals oder heute,/ die trotz der Repressionen weiter kämpf(t)en,/ endlich realisiert werden,/ ihr Leben und ihr Bemühen nie in Vergessenheit geraten,/ die Solidarität endlich mehr als nur eine Phrase.
Am Ende bleibt das Kümmern./ Sich kümmern, in politisch angespannten Zeiten./ Sich kümmern, wenn viele damit aufgehört haben./ Sich kümmern, um das Vergessen aufzuhalten./ Das Vergessen … Denn nie wieder ist jetzt.
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