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Die WahrheitDen Ick-Factor lieben lernen

Plötzlicher Ekel beim Rendezvous oder Date? Das muss doch nicht sein. Der aktuell wahre Report aus dem Land der Balz.

Wenn Auren verschmelzen, gehts dem Ekel gleich besser Foto: Sina Schuldt / dpa

Ein Frühlingsmorgen in Hamburg. Es passiert. Gerade als sie sich ihrem Blind Date frontal zu erkennen geben will. Ein Ick! Carola Lohmeyer hat im Gesicht des sonst attraktiven Mittvierzigers eine Tendenz zu fettig-trockener Mischhaut festgestellt. Mit viel Mühe schafft es die Hanseatin, das Ick samt aufkommendem Würgereiz zurückzudrängen. Zentimeter vor ihrer verschämt lächelnden Verabredung schlägt sie eine scharfe Linkskurve ein. Dann türmt sie mit aufgeblasenen Backen im Vollsprint Richtung Kornhausbrücke. Die als Erkennungszeichen vereinbarte Edelrose schwimmt wenig später genauso in der Elbe wie Carola Lohmeyers Frühstücksfrischkäse-Bagel.

Lohmeyers Mentalcoach Dirk Jansen beißt vor Wut in sein knallrotes Klemmbrett. Der Dating-Doc aus Hamburg-Fuhlsbüttel, dem wir heute auf seiner Runde als Amors Stellvertreter den Köcher halten dürfen, ist wiedermal nicht angekommen gegen den „Ick-Factor“ (zu Deutsch „Bäh-Faktor“). Wie Jansen uns erzählt, befällt der plötzlich auftretende Ekel weltweit Menschen auf Partnersuche. Jansens Mission? Seine Schützlinge sollen Dates nach der Konfrontation mit leicht zu übersehenden Makeln ihres Gegenübers nicht versemmeln.

Nach kurzer Pedalfahrt in Jansens Liebesdienst-Rikscha lümmeln wir uns zum „Dinner in the dark“ in einem Billstedter Restaurant. Um den ick’schen Panikimpuls zu kontrollieren, rät der Partnervermittler seinen Kunden grundsätzlich dazu, ihre Sinne nicht zu überfordern. „Das kann bedeuten, sich zunächst auf etwas Neutrales und Unverfängliches wie den Hinterkopf des Gegenübers oder dessen gut verhüllte Kniekehle einzulassen. Erst danach sollte man möglichst vorurteilsfrei auch die übrigen Körperteile unter die Lupe nehmen. Tja, und wenn selbst das daneben geht, landet man eben hier. Bei mir.“

Zwei Worst-Case-Kandidaten mucksmäuschenstill mit Nasenklammern und Ohrstöpseln in völliger Dunkelheit

Jansen hat im „Dinner in the dark“ einen Tisch für zwei schwer vermittelbare Härtefälle reserviert. Wollen wir den Beschreibungen des 35-Jährigen glauben, sitzen die zwei Worst-Case-Kandidaten sich gerade mucksmäuschenstill mit Nasenklammern und Ohrstöpseln in völliger Dunkelheit gegenüber. Am Ende dieser vierstündigen Auren-Verschmelzung erhöht Jansen dann mit einem Ruck das Deckenlicht auf 100.000 Lux.

Die Wirkung ist beeindruckend: ein Geräuschmix aus spitzen Schreien, Flüchen und klirrendem Geschirr. Die unterwegs zum Notausgang kollidierten Männer liegen sich auf dem Fußboden liebkosend in den Armen. Jansen macht noch schnell ein Selfie vor seiner aktuellen Erfolgsstory. Dann streichen wir in Hamburg-Billstedt die Liebessegel.

Als wir auf dem „Frühlingsdom“ vor dem Riesenrad stehen, dämmert es. Wer glaubt, Jansen würde seinen Singles beim Schlendern über den größten Jahrmarkt Norddeutschlands bloß Lebkuchenherzen umhängen, hat sich getäuscht. Das 60 Meter hohe Wahrzeichen auf St. Pauli läuft exklusiv für den Sehnsuchtsstiller und sein scheues Klientel.

„In den Gondeln sind 42 potentielle Paare seit acht Uhr in der Frühe einkaserniert“, brüllt Jansen gegen die dröhnende Techno-Beschallung an. „Die Möglichkeiten, beim Entdecken eines Überbisses im Millimeterbereich schreiend wegzulaufen, sind dort oben natürlich stark eingeschränkt. Bis wir das Ding Punkt 22 Uhr abstellen, erwarte ich fantastische Resultate. Und das nicht nur bei meinen Turteltauben.“

Jansen betreut neben seiner Stammkundschaft auch etliche Kandidaten aus der Politik, „die sich aufgrund des ‚Ick-Factors‘ schon seit Jahren aus tiefster Seele anwidern“. Der Passion-Profi deutet nach oben zu den Gondeln. „In diesen Minuten kommen sich in Nummer 19 Boris Pistorius und Thorsten Frei, der von der CDU, näher. In der 27 haben Friedrich Merz und Olaf Scholz noch einiges aufzuarbeiten, während die 9 Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi vorbehalten ist. Einzig Markus Söder ist als Kotzbrocken Nummer eins derart gefragt, dass er sich alle fünf Minuten von Kabine zu Kabine hangeln muss.“ Jansen japst plötzlich: „Oh-oh!“

Plötzlich stieben Funken

Aus der klobigen Kabelfernbedienung, mit der Jansen die Riesenradgeschwindigkeit erhöhen kann, stieben plötzlich Funken. Der Dating-Experte lässt das Gerät reflexartig fallen. Auf dem Asphalt geht es umgehend in Flammen auf. Derweil müssen wir hilflos mitansehen, wie das Tempo des Fahrgeschäfts binnen Sekunden auf das siebenfache der Erdbeschleunigung ansteigt. Während es dazu zehntelsekündlich in allen Farben des Regenbogens fluoresziert, bleibt Jansen und uns nichts anderes übrig, als das Ungetüm nach Erreichen der Höchstgeschwindigkeit ausdrehen zu lassen.

Als die Promi-Paare uns schließlich eng umschlungen entgegentaumeln, ist es früher Morgen. Jansen beobachtet ergriffen, wie sich die einstigen Rivalen beim gemeinschaftlichen Hervorwürgen ihrer Mageninhalte stützen. Dem Beziehungsbringer steigen Tränen in die Augen. „Wenn das nicht die wahre Liebe ist“, raunt Dirk Jansen uns zum Abschied zu, „dann weiß ich es auch nicht.“

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