: „Das freiheitlichste Kämpferherz hat aufgehört zu schlagen“
Gerd Poppe kämpfte sein Leben lang gegen die Diktatur – in der DDR, aber auch weltweit. Nun ist der Bürgerrechtler tot. Unser Autor nimmt Abschied von einem Vorbild. Und von einem engen Freund

Von Ilko-Sascha Kowalczuk
Das freiheitlichste Kämpferherz, das ich kenne, hat gerade für immer aufgehört zu schlagen. Vier Wochen hat mein Freund, mein großes Vorbild Gerd „Poppoff“ Poppe gekämpft – diesen letzten Kampf hat er nun verloren. Ein großes Leben hat sich nur wenige Tage nach seinem 84. Geburtstag vollendet. Wir – seine Frau Ilona, seine Kinder Grit, Jonas und Johanna und seine engsten Freunde wie Marianne, Henne, Petra, Lukas, Ulrike, Birgit, Putz, Thomas oder Ralf haben seit Wochen gebangt und gehofft, immer wieder an seinem Krankenbett – vor wenigen Tagen mussten wir voller Trauer zur Kenntnis nehmen, dass es keine Chancen mehr gibt.
Mit Poppoff verliert unser Land eine der ganz großen Persönlichkeiten des Widerstands gegen die kommunistische Diktatur. Wie seine langjährige Weggefährtin Bärbel Bohley zählte er zu den ganz wenigen Oppositionellen der 1970er und 1980er Jahre, die selbst keinen kirchlichen Hintergrund aufwiesen und nicht durch die Kirche geschützt waren (auch wenn er einige Jahre dort arbeitete, was enorm konfliktbeladen war).
Mitten im Zweiten Weltkrieg an der Ostseeküste geboren, studierte er Physik und war seit 1968 eine der prägenden Persönlichkeiten in der antikommunistischen Opposition gegen die SED-Diktatur. Sein Lebensthema war und blieb – FREIHEIT. Er gehörte 1985/86 zu den Gründern der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM). Der Grundsatz dieser profiliertesten Ostberliner Oppositionsgruppe lautete, wer keinen inneren Frieden garantiere, könne auch keinen inneren Frieden sichern – beides gehöre zusammen.
Poppoff wirkte in seiner Oppositionsarbeit trotz jahrelanger Reiseverbote und einer intensiven Bearbeitung durch die Stasi immer grenzüberschreitend und hielt Kontakte sowohl mit bundesdeutschen und westeuropäischen Politiker*innen und Menschenrechtler*innen als auch mit ostmitteleuropäischen Oppositionellen aufrecht. Er gehörte zu den Vordenkern der Freiheitsrevolution von 1989.
In dieser Zeit war er an vielen Schauplätzen aktiv – etwa als IFM-Vertreter am Zentralen Runden Tisch ab Dezember 1989 oder als Minister ohne Geschäftsbereich in der Modrow-Regierung ab Februar 1990. Am 18. März 1990 gewann er für die IFM mit dem Bündnis 90 ein Mandat in der ersten demokratisch gewählten DDR-Volkskammer. Ein Lebenstraum von ihm ging in Erfüllung: freie und demokratische Wahlen – dafür hatte er wie nur wenige andere sein Leben lang gekämpft. Der DDR-Oppositionelle und Pfarrer Stephan Bickhardt nennt ihn wohl zutreffend das „geistige Oberhaupt der Opposition“ in der DDR.
Von 1990 bis 1998 war Poppoff Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Gruppe beziehungsweise Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Er engagierte sich für die Menschenrechte weltweit und war in Ländern mit früheren oder aktuellen Diktaturen aktiv. Er trug mit wenigen anderen ostdeutschen Bürgerrechtler*innen maßgeblich dazu bei, dass die Grünen außenpolitisch eine andere Partei wurden – das zeigte sich etwa an seiner Politik gegenüber den Balkanstaaten: Viel früher als alle anderen sprach er sich für eine aktive Politik, die Verbrechen und Massenmorde zu verhindern und mit allen Mitteln einzudämmen versucht, aus. Seine Partei, die ohne diesen Richtungswechsel nie zur realpolitischen Kraft hätte werden können, hat ihm das nie gedankt.
Außerdem engagierte er sich für die Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur und des Kommunismus. Von 1992 bis 1998 war er Obmann in den beiden Enquetekommissionen, die sich im Deutschen Bundestag mit der Geschichte und den Folgen der SED-Diktatur befassten. Ehrenamtlich wirkte Poppoff von 1998 bis 2021 als Vorstandsmitglied der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sein besonderes Augenmerk galt hier Osteuropa und der früheren Sowjetunion.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag war er von 1998 bis 2003 der erste Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, angesiedelt im Auswärtigen Amt. Damit schloss sich ein Lebenskreis, der Menschenrechte und Freiheit im Zentrum hatte.
Poppoff war bis 1989 ein Freiheitskämpfer in der Diktatur – und er war ab 1990 ein Freiheitskämpfer gegen Diktaturen. Früher als die meisten anderen – nämlich von Anfang an – warnte er vor dem KGB/FSB-Offizier Putin. Bei seinen Reisen nach Russland und in andere Nachfolgestaaten beobachtete er sehr genau, was sich dort abspielte. Er war in Tschetschenien – wie übrigens auch in Afghanistan und China.
Bis zuletzt war er selbstverständlich auf Seiten der Ukraine – kompromisslos und unbeirrt ob aller Zersetzungsstrategien und öffentlicher Manipulierungsversuche. Auf seinen unzähligen Reisen in alle Weltregionen traf er sich mit Oppositionellen, mit politisch Verfolgten, mit aus politischen Gründen Inhaftierten. Eine besondere Verbindung hatte er immer zur russischen Bürgerrechtsorganisation Memorial.
Gerd „Poppoff“ Poppe war immer ein Freiheitskämpfer. Und er hat seine Überzeugung auch im Alltag gelebt – freiheitlich in der Diktatur, freiheitlich in der Demokratie. Jeder, der ihn kennenlernte, erlebte einen Mann, der für seine Überzeugungen stritt, immer gute Argumente auf seiner Seite hatte und natürlich auch den nötigen Sturkopf besaß, um nicht unterzugehen.
Wie stark er diesen Freiheitsgedanken lebte, zeigte sich auch daran, dass er mit seiner damaligen Frau Ulrike und anderen Freund*innen Anfang der 1980er Jahre den ersten unabhängigen Kinderladen in Ostberlin gründete, um die zwei gemeinsamen Kinder dem staatlichen Zugriff wenigstens im Kindergartenalter zu entziehen. Der Staat schaute nicht lange zu und zerstörte das Projekt. Die Wohnung in der Rykestraße war viele Jahre Anlaufpunkt für Oppositionelle aus der ganzen DDR, aber auch für Menschen aus allen möglichen Ländern. Sehr viele Jahre lang hat die Stasi Poppoff intensiv beobachtet, „bearbeitet“ und zu „zersetzen“ versucht. Die überlieferten Akten gehören zu den umfangreichsten, die die Stasi über Oppositionelle anlegte. So ist auch teilweise dicht dokumentiert, wer aus dem Ausland Kontakt zu Gerd Poppe aufnahm.
Natürlich kannte Poppoffs Leben viele Höhen, viele Täler. Das Schlimmste ereignete sich 1992, als sein Sohn Boris im Alter von 25 Jahren tödlich verunglückte. Immer wieder machte sich Poppoff deswegen Vorwürfe – sinnlose Vorwürfe, wie es nur Eltern verstorbener Kinder tun können.
Leider hat Poppoff trotz vielerlei Drängens es nicht in Angriff genommen, eine Autobiografie zu schreiben. Dabei wäre seine eine einzigartige, so wichtig gewesen. Als er das letzte Mal vor wenigen Tagen auf meine Worte am Krankenbett, das nun sein Todesbett werden sollte, reagieren konnte, habe ich ihm gesagt, nun müsse ich das übernehmen und eine Biografie über ihn schreiben. Wenn er es selbst getan hätte, wäre das Buch besser geworden. Mit einer seiner typischen Gesten hatte er abgewunken, aber sein Gesicht zeigte ein feines Lächeln.
Poppoff konnte nicht nur energisch sein – was haben wir uns manchmal in unserem kleinen Inner Circle gestritten, meine Herren! –, er hatte auch einen sehr feinen Humor. Was ich besonders schätzte: Niemals in unser 35-jährigen, engen Freundschaft habe ich von ihm den Satz gehört: „Das interessiert mich nicht.“ Und Poppoff interessierte sich wahrlich für fast alles: Politik und Geschichte sowieso, Architektur, Kunst, er reiste gern, ging häufig ins Kino und in Konzerte, verfolgte Sportwettkämpfe, er liebte Darts und Billard. Er war der Mensch mit dem größten Wissen, dem ich je begegnet bin. Dabei hatte er etwa in Film- und Musikdingen nicht nur große Tonträger- und Buchsammlungen, sondern auch ein erstaunlich jederzeit abrufbares, unfassbar breites Wissen. Er ging gern in klassische Konzerte, stand bis zuletzt auf Rockkonzerten herum und war ein begeisterter Jazzanhänger. Das letzte Konzert – Freitag, den 28. März – musste ich nun ohne ihn erleben. Mein geplantes Geschenk erreichte ihn nicht mehr in seinem Krankenbett.
Für mich war er immer größtes Vorbild und Inspirator, Kritiker und Richtschnur, ein – nein: mein Leuchtturm – und mein wichtigster Ratgeber seit Jahrzehnten. Er hat in der Diktatur freiheitlich gelebt und entscheidend zum Sturz der kommunistischen Diktatur beigetragen. Ich bin stolz darauf, ihn meinen Freund nennen zu können. Nun müssen wir ihn zu Grabe tragen – es ist, als ginge ein Stück meiner Seele mit ihm.
Seit Wochen fühlte ich mich, als verabschiede sich auch ein Teil von mir für immer. Jetzt, da das Unausweichliche eingetreten ist, weiß ich gerade nicht, welchen Sinn ich darin finden sollte. Aber ich weiß, dass Gerd „Poppoff“ Poppe nie tot sein wird, solange wir uns seiner erinnern. Ich werde meinen kleinen Teil dazu beitragen, dass er nie vergessen wird. Und ich werde mich dafür einsetzen, dass auch andere sich dafür engagieren. Deutschland hat eine einzigartige Persönlichkeit verloren. Ich einen Freund, wie ich nie wieder einen haben werde.
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