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Die Grenzen der Freiheit

Ungehindert am Flussufer spazieren und radeln, wünschen sich viele. Und mehr als das: In Brandenburg ist der freie Zugang zu den Ufern sogar in der Verfassung verankert. Doch die Realität sieht anders aus. Ein Besuch an den gesperrten Ufern der Spree in Berlin und Brandenburg

Zumindest von hier aus herrscht freie Sicht aufs Ufer: 200 Schwim­me­r:in­nen demonstrieren im Juli 2024 in Berlin-Schöneweide Foto: Florian Boillot

Von Uwe Rada

Die Krumme Spree ist nicht nur krumm, sie windet sich mit ihren zahlreichen Mäandern und Altarmen auch um die Frage herum, wem ihre Ufer eigentlich gehören. Natürlich allen, sagt dazu die Brandenburger Landesverfassung. Dass es so einfach nicht ist, zeigen die blauen Andreaskreuze, die an der Krummen Spree zwischen Kossenblatt und Trebatsch angebracht sind. „Ufer frei“ steht auf ihnen, manchmal auch versehen mit einem dicken Ausrufezeichen.

Das mit den Kreuzen hat sich Ray Höpfner ausgedacht. Schon in den Neunzigerjahren hat der Ingenieur aus Trebatsch mit seiner Mutter die Initiative „Ufer frei“ gegründet, seitdem prangen die Kreuze wie Mahnmale an der Krummen Spree und weiter flussabwärts bis Beeskow, der Kreisstadt im Brandenburger Landkreis Oder-Spree. „Inzwischen haben wir bereits 600 Kreuze aufgestellt“, erzählt Höpfner stolz.

Eines davon steht in Werder bei Kossenblatt. Unweit davon hat der private Eigentümer sein Grundstück am Spreeufer mit Maschendraht und Stacheldraht gesichert. Für Höpfner ist das Kreuz ein Zeichen, eine solche Sperrung nicht einfach hinnehmen zu wollen.

Doch so einfach ist es meistens nicht. Viele Grundstücke an der Spree reichen bis zum Wasser. Einen Uferweg anzulegen, würde teilweise jahrelange Enteignungsverfahren nach sich ziehen. „Es geht um den Grundsatz der Uferfreiheit, und der bringt uns in einen schwer zu lösenden Widerspruch“, hatte schon 2019 der damalige Ortsvorsteher von Werder der Märkischen Oderzeitung berichtet.

„Menschen sind Ufergucker“ ist so ein Satz, den Ray Höpfner gern benutzt. Und weil das so ist, muss das Ufergucken – allen Widersprüchen zum Trotz – auch möglich gemacht werden. Um den freien Zugang zu den Ufern, der in der Landesverfassung steht, durchzusetzen, hat sich Ray Höpfner deshalb an den zuständigen Ausschuss im Potsdamer Landtag gewandt. Die Antwort war ernüchternd. „Kein Handlungsbedarf“, hieß es. Über Bebauungspläne etwa hätten die Gemeinden eine „hinreichende Rechtsgrundlage“, um „einzelfallbezogen zu reagieren“.

Solche Antworten stacheln Ray Höpfner eher noch an, als dass sie ihn entmutigen. Natürlich weiß er, dass eine kleine Gemeinde kaum Personal und Mittel hat, über aufwendige Bebauungsplanverfahren Wegerechte zu sichern und, wenn nötig, einen Rechtsstreit mit einem Eigentümer auszufechten. Doch Höpfner geht es ums Prinzip. „Neue Zäune sind nicht das, was ich mir nach dem Ende der DDR gewünscht habe“, sagt er.

Uferlos im Szeneviertel

Im grün regierten Rathaus des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg sind Bebauungspläne kein Fremdwort. Mit solchen B-Plänen sichert sich der Bezirk von Investoren bei Neubauprojekten etwa eine gewisse Zahl an Sozialwohnungen oder den Bau einer Kindertagesstätte. Seit 2008 sollen die Bebauungspläne am Kreuzberger und Friedrichshainer Ufer der Spree auch einen durchgehenden Uferweg möglich machen.

Carsten Joost steht am Ufer der Spree unterhalb der „Uber-Arena“ und schaut auf die Kreuzberger Seite. Die Fassaden der geklinkerten Fabrikgebäude reichen bis ans Ufer des Flusses, der hier bis 1990 die innerdeutsche Grenze bildete. Von einem Uferweg ist weit und breit nichts zu sehen. Schlimmer noch: „Auf der Freifläche neben einer der Fabriken hat der Bezirk einen Neubau genehmigt, der ebenfalls bis zum Spreeufer reicht“, ärgert sich Joost.

Carsten Joost ist Architekt und war Initiator eines Bürger­entscheids, der ein neues Kapitel an der innerstädtischen Spree hätte aufschlagen können. Den Investorenplänen von Bürobauten, Glaspalästen und privaten Wasserzugängen setzte die Initiative „Spreeufer für alle“ die Vision eines 50 Meter breiten öffentlichen Uferwegs entgegen. Einem entsprechenden Bürgerentscheid gaben am 18. Juli 2008 87 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Ja-Stimme. „Bürger versenken Media­spree“ jubelte damals die taz in Anspielung auf einen gleichnamigen Zusammenschluss von Investoren.

Wenn sich Carsten Joost heute umdreht und nicht auf das Kreuzberger, sondern auf das Friedrichshainer Spreeufer schaut, weiß er, dass damals eine Schlacht gewonnen, der Krieg um die Spreeufer wohl aber verloren wurde. Namentlich das Quartier rechts und links der „Uber-Arena“ ist eine Stadt, geboren aus einem Investorentraum. Für einen wie Joost ist es ein Albtraum. Selbst die Straßen sind hier nicht öffentlich, sondern privat.

Der einzige Lichtblick ist der „Park an der Spree“, eine breite Promenade zwischen East Side Gallery und Spreeufer. „Mit dem Bürgerentscheid hat der Park aber nichts zu tun“, lacht Joost. Es ist ein sarkastisches, auch hilfloses Lachen. Denn der am Ufer langgezogene Park ist eine Ausgleichsmaßnahme für den Bau der Investorenstadt an der „Uber-Arena“. Das „freie Ufer“ als Almosen für einen in private Hände gegebenen Städtebau.

Und auf der Kreuzberger Seite? Wird ein Bebauungsplan nach dem andern bearbeitet, sagt Joost. „Dort, wo die Gewerbegrundstücke nicht bis ans Ufer reichen, sollen Wohnungen gebaut werden.“ Zwischen den Neubauten und der Spree ist auch ein Uferweg vorgesehen. „Der Bau beginnt aber erst, wenn alle B-Pläne festgesetzt sind.“

Ungehindert am Flussufer spazieren und radeln, wünschen sich viele. Doch auch, wenn die Politik diesen Wunsch teilt, scheitert sie zumeist an Investoren, denen ein privates Ufer mehr in die Kassen spült als ein frei zugängliches. Ein bisschen scheint das sogar der Landes­politik peinlich. 2021 beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus mit der Mehrheit von SPD, Grünen und Linken einen Antrag mit der Überschrift „Das Wasser und die Ufer gehören Berlin“. Der Senat wurde darin aufgefordert, ein Uferwegekonzept vorzulegen.

Ein solches Konzept gibt es auch vier Jahre später noch nicht. In ihrer Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Katalin Gennburg musste die inzwischen von der CDU geführte Umweltverwaltung sogar einräumen, dass man nicht einmal wisse, wie viele Kilometer Uferweg es entlang der 40 Kilometer langen Spree von Köpenick bis Spandau gebe.

Und dort, wo es eine Promenade gibt wie unterhalb der „Uber-Arena“, wird sie immer wieder unterbrochen. Das zeigt Carsten Joost bei einem Spaziergang in Richtung und entlang des „Parks an der Spree“. Auf der Höhe zweier umstrittener Investorenbauten wird die Promenade schmaler und schmaler, bis sie auf einen Erdhügel trifft: die Rampe einer im Krieg zerstörten Brücke. Erst dahinter geht es weiter. Wer das Hindernis überwinden will, muss entweder den Umweg über Stufen hinauf ins Hinterland nehmen – oder er passiert einen illegalen Trampelpfad und muss aufpassen, nicht ins Wasser zu fallen.

„In meiner Heimatstadt ist das anders“, sagt Joost und erzählt vom Mainufer in Frankfurt, das er als Student bereits mitgeplant hat. Als Museums­ufer ist es seit den Achtzigerjahren ein öffentlicher Ort geworden. Auch sonst gibt es viele freie Ufer in Deutschland, nur nicht an der Spree.

Schwimmdemo mit Kreuz

Stolz zeigt Dirk Sarnoch den Kalender aus Oberschöneweide. Das Blatt vom Juli 2024 ziert ein Luftbild der Schwimmdemo im vergangenen Jahr am Kaisersteg. „Ray Höpfner war auch dabei“, schmunzelt Sarnoch, der um die Ecke die Buchhandlung „Werk 116“ betreibt. „Beim Schwimmen zog er eines seiner blauen Kreuze neben sich her.“

Ray Höpfners Initiative hat sich inzwischen mit anderen Bürgerinitiativen vernetzt. Mit Leuten in Potsdam, die darum kämpfen, dass die Ufergrundstücke am Griebnitzsee – auch dort verlief die Mauer – für die Allgemeinheit geöffnet werden. 33 blaue Kreuze stehen dort schon. Und mit der Initiative „Ufer frei in Schöneweide“, die schon zweimal die Schwimmdemo organisiert hat. Auch Sarnoch gehört der Initiative an.

Der Kaisersteg ist eine Brücke für Radfahrerinnen und Fußgänger, die die Ufer in Niederschöneweide und Oberschöneweide miteinander verbindet. Vor allem für die 14.000 Studierenden der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) ist sie ein Segen, sie verkürzt den Weg vom S-Bahnhof zur Hochschule erheblich.

„Neue Zäune sind nicht das, was ich mir nach dem Ende der DDR gewünscht habe“

Ray Höpfner, Initiative „Ufer frei“

Aber eigentlich müsste man sagen: Sie würde ihn ­erheblich verkürzen. Denn das Ufer gleich hinter dem Kaisersteg ist gesperrt. Am Bauzaun hängt eines der blauen Kreuze. Angebracht haben es „Ufer frei in Schöneweide“ zusammen mit Ray Höpfner. „Seit Jahren ­weigert sich der private Eigentümer, den Weg zu öffnen“, sagt Sarnoch.

Auch der Bezirk Treptow-Köpenick hat sich eingeschaltet, die grüne Baustadträtin Claudia Leistner war bei der letzten Schwimmdemo vor Ort. Doch eine Handhabe hat auch sie nicht, wenn der Besitzer selbst nicht bauen will. Ein Deal fällt flach.

„Das Privateigentum ist mächtiger als die Verwaltung“, seufzt Dirk Sarnoch. Aufgeben will seine Initiative dennoch nicht. „Auch in diesem Jahr wird es wieder eine Schwimmdemo geben“, kündigt er an. Immerhin: Auf dem gegenüberliegenden Spreeufer wird es einen neuen Uferweg geben. Der Bezirk hat ihn in den Bebauungsplan für ein Neubaugebiet geschrieben.

Auch Ray Höpfner hat in Trebatsch einen Teilerfolg erreicht. Mit knapper Mehrheit stimmte die Gemeindevertretung dafür, die Ufer der Spree künftig frei zu halten. Doch der Erfinder der blauen Kreuze will mehr. „Wenn jemand stirbt, darf bei einem Verkauf des Grundstücks der Uferstreifen nicht mit verkauft werden“, fordert er. Dann erzählt er von seinem großen Traum. „Wir wollen, dass es auch in Deutschland ein Jedermannsrecht gibt wie in Skandinavien.“

Jeder soll also überall zum Ufergucker werden können. „Damit das möglich wird, muss der freie Zugang zum Ufer ins Grundgesetz“, sagt Ray Höpfner.

Von Uwe Rada erscheint ende März im KJM-Buchverlag das Buch „Spree“. Der Fluss wird dort als politische Landschaft beschrieben.

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