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Helene Hegemanns Roman „Striker“Junge Frau mit Großstadtneurose

In Helene Hegemanns neuem Roman „Striker“ entwickelt eine Kampfsportlerin eine Art Angststörung. Doch vor allem geht es um ein zeittypisches Grundgefühl.

Neurotisch wird, wer ständig ungefragt mit dieser existenziellen Unsicherheit konfrontieren wird Foto: Elmar Gubisch/imago

Nichts im Leben ist sicher. Im Prinzip weiß jeder Mensch das, doch normalerweise wird dieses Wissen erfolgreich verdrängt. Allerdings gibt es Orte, die uns ständig ungefragt mit dieser existenziellen Unsicherheit konfrontieren: an erster Stelle die Großstadt, weil dort auf engem Raum extreme, auch extrem prekäre Formen menschlichen Daseins aufeinandertreffen.

Das ist der inhaltliche Rahmen von „Striker“, Helene Hegemanns neuem Roman. Handlungsort ist Berlin. N, die weibliche Hauptfigur, hat sich eine wirksame Form der Vorab­verteidigung gegen potenzielle Bedrohungen der Außenwelt zugelegt: Sie betreibt intensiv Kampfsport. Die Aussicht, beim nächsten Boxwettkampf einer gefürchteten Konkurrentin zu begegnen, gegen die sie schon einmal verloren hat, stresst N allerdings gewaltig.

Ihre nervliche Belastung nimmt weiter zu, als sich im Flur vor ihrer Wohnung eine obdachlose junge Frau einnistet. Aus Ns spontaner Hilfsbereitschaft wird Ablehnung und Misstrauen, als diese Frau, Ivy, sich nicht nur als allzu anhänglich erweist, sondern auch eindeutig psychisch instabil wirkt.

Ihre eigene äußere Ähnlichkeit mit ihr verunsichert N stark; sie beginnt an ihrem Verstand zu zweifeln und traut sich zwischendurch nicht mehr, in ihrer Wohnung in einem touristischen Partyviertel zu übernachten. Zum Glück kann sie zeitweise bei einer Politikerin unterschlüpfen, mit der N eine sexuelle Beziehung unterhält.

Der Roman

Helene Hegemann: „Striker“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 192 Seiten, 23 Euro

Mehrdeutiger Titel

Der Romantitel ist mehrdeutig. Zum einen kann er auf N selbst bezogen werden, zum anderen agiert unter dem Namen „Striker“ ein Graffitikünstler, der persönlich nie auftaucht, aber in Ns Bewusstsein Spuren hinterlässt, da er auf die Brandmauer gegenüber ihrem Fenster unverständliche Zeichen sprüht, die N nachhaltig beunruhigen.

Viele Elemente im Roman haben eine wenig subtile Zeichenfunktion, angefangen bei Ivys Namen (selbsthaftende Kletterpflanze) über Strikers menetekelhaftes „writing on the wall“ bis hin zu den Einrichtungsgegenständen, die N während schlafloser Nächte im Internet kauft. Von diesen trägt jedenfalls keins dazu bei, ihre Wohnung zu einem gefühlt sicheren Refugium zu machen. Vor allem an dem großen Spiegel wird (ziemlich penetrant) zeichenhaft die drohende Auflösung von Ns Persönlichkeit reflektiert.

Doch so weit wird es nicht kommen, und das ist auch gar nicht nötig, weil es um N eigentlich nicht wirklich geht. Obwohl der Roman aus ihrer Perspektive erzählt, bleibt eine Identifizierung mit N aus, weil sie als Charakter nicht greifbar ist. Diese junge Frau mit Großstadtneurose ist eine Stellvertreterin; in ihr umschreibt der Roman ein Phänomen, ein eventuell zeittypisches Grundgefühl, an das man lesend andocken soll.

Jedes Leben ist fragil

Für die Individualität der Figuren interessiert die Autorin sich nur insoweit, als jede Person einen Beitrag zum Gesamtbild darstellt. Das ist konsequent und ziemlich grundsätzlich umgesetzt, und dazu gehört, dass auch die Nebenfiguren sich als ebenso den Unsicherheiten des Daseins ausgesetzt zeigen wie N.

„Die Politikerin“ etwa, die nur mit ihrer Berufsbezeichnung benannt wird, bekommt bei Reisen in Kriegsgebiete furchtbare Dinge zu sehen und hat seltsam kaltherzige Strategien entwickelt, diese Erfahrungen zu verdrängen. Ihre langjährige Beziehung zu N ist trotz körperlicher Nähe lediglich beiläufigen Charakters.

Die taz bei der Leipziger Buchmesse

Die taz ist bei der Leipziger Buchmesse vom 27. bis 30. März mit einem eigenen Stand vor Ort in Halle 5, Stand G500. Dort werden auch wieder in zahlreichen Talks taz-Autor:innen lesen und diskutieren. Die taz Talks werden auf dem youtube-Kanal der taz live gestreamt. Zur Buchmesse erscheint am 27. März auch wieder die literataz, eine taz mit 12 Extraseiten. Die vergangenen Ausgaben können Sie hier downloaden.

Unser Programm

🐾 Donnerstag 27.03.25

11:00 Uhr: „Post-“ – Nachruf auf eine Vorsilbe – Dieter Thomä

11:45 Uhr: Lauf, Mama, Lauf! – Mareike Barmeyer

12:30 Uhr: Als wäre es vorbei – Katja Petrowskaja

13:15 Uhr: Macht im Umbruch – Herfried Münkler

14:00 Uhr: Zuhause ist das Wetter unzuverlässig – Carolin Würfel

14:45 Uhr: Das Deutsche Demokratische Reich – Volker Weiß

15:30 Uhr: Ginsterburg – Arno Frank

16:15 Uhr: Klapper – Kurt Prödel

19:00 Uhr @Galerie KUB: Was wäre, wenn wir mutig sind – Luisa Neubauer

🐾 Freitag 28.03.25

11:00 Uhr: Trotteln – Robert Seethaler, Rattelschneck

11:45 Uhr: Fischtage – Charlotte Brandi

12:30 Uhr: Russische Spezialitäten – Dmitrij Kapitelman

13:15 Uhr: Schwebende Lasten – Annett Gröschner

14:00 Uhr: Oh! Dalmatien – Doris Akrap

14:45 Uhr: Reise in die Mediengesellschaft USA – Julia Belzig

15:30 Uhr: Meine Sonnenallee – Jan Feddersen

16:15 Uhr: Digitale Diagnosen – Laura Wiesböck

17:00 Uhr: Traumaland – Asal Dardan

🐾 Samstag, 29.03.2025

10:15 Uhr: Edition Le Monde diplomatique: Indien – Modi und die Farbe der Macht – Sven Hansen, Jakob Farah

11:00 Uhr: Pazifismus, ein Irrweg? – Pascal Beucker

11:45 Uhr: Kipppunkte – Georg Diez

12:30 Uhr: Zuhören – Bernhard Pörksen

13:15 Uhr: Die dunkle Seite der Sprache – Tim Henning, Nikola Kompa, Christian Nimtz

14:00 Uhr: Norwegen, wir kommen auf Umwegen! – Wahrheitsklub mit Harriet Wolff, Andreas Rüttenauer, Rattelschneck aka Marcus Weimer, LAMINATOR

14:45 Uhr: Die Spree – Uwe Rada

15:30 Uhr: Der 7. Oktober und der Krieg in Gaza – Muriel Asseburg

16:15 Uhr: Autoritäre Rebellion – Andreas Speit

17:00 Uhr: Frau Zilius legt ihr erstes Ei an einem Donnerstag –Friederike Gräff

🐾 Sonntag, 30.03.2025

10:00 – 13:00 Uhr: Hilfe in Sachen ePaper und Abo – taz Seitenwende

14:00 Uhr: Wruuum! Crash! Boom! – Comicworkshop mit Michel Esselbrügge

Jedes Leben, so versteht man, ist fragil, jede Person ist mit ihren Problemen ziemlich allein. In sich ist es ein schlüssiges Gesamtbild, das die Autorin zeichnet; aber genau darin liegt auch ein grundsätzliches Problem. Der unbedingte Wille, zeitdiagnostischen Mehrwert zu generieren, ist dem Roman so stark eingeschrieben, dass der Lektüre jede Möglichkeit zur eigenwilligen Interpretation, jedes spielerische Element entzogen wird.

Dem deprimierenden Bedrohungspotenzial ist nicht zu entrinnen. Doch immerhin kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die enigmatischen Zeichen, die „Striker“ auf Wände malt, eine geheime Botschaft der Hoffnung enthalten. Dass N nicht imstande ist, sie in dieser Weise zu lesen, sollte schließlich nicht unser aller Problem sein.

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