Philosophin über angenehmen Schmerz: „Die Leute denken meistens zuerst an BDSM“
Philosophin Teresa Geisler bestätigt, dass es Schmerzlust gibt. Sie setzt sich dafür ein, dass das auch wissenschaftlich anerkannt wird.
taz: Frau Geisler, die Lust am Schmerz, was ist das überhaupt?
Teresa Geisler: Wenn ich über Schmerzlust spreche, denken die Leute meistens zuerst an BDSM, also masochistische sexuelle Praktiken, und dann Borderline, also eine psychische Erkrankung. Aber Schmerzlust hat erst mal nichts mit Sex oder Krankheit zu tun. Es gibt viele alltägliche Phänomene, wo eine Lust am Schmerz da zu sein scheint, zum Beispiel beim scharfen Essen oder in der Sauna, wenn die Haut anfängt zu brennen, oder beim Dehnen im Yoga. Wenn wir uns lustvoll an einem Mückenstich kratzen oder wenn kleine Kinder an einem Zahn wackeln, bis an den Punkt, wo es zu doll weh tut, und dann wieder aufhören.
taz: Das sind interessante Alltagsbeobachtungen. Wieso sind sie für die Philosophie relevant?
Geisler: In so gut wie allen wissenschaftlichen Definitionen geht es um Schmerz als unangenehme Erfahrung. Diese Definitionen sind auch bewährt und anerkannt. Als Philosophin hat mich die paradoxale Natur von Schmerzlust interessiert: Wenn Schmerz notwendig unangenehm ist, dann scheint in der Schmerzlust eine unangenehme Erfahrung lustvoll, also angenehm zu sein. In der Philosophie fragen wir nicht nur, „Wie reden wir über Schmerz?“, sondern auch „Was sollten wir unter Schmerz verstehen?“ Dazu gibt es noch viel zu sagen. Bis heute gibt es wenig systematische Untersuchungen.
Jahrgang 1988, promoviert in Philosophie an der TU Berlin. Mit ihrem Beitrag „Schmerz, Lust und Wasabinüsse“ gewann sie 2022 den 1. Platz im Science Poetry Slam der Berlin University Alliance. 2024 war sie in der Arte-Dokumentation „Brauchen wir Schmerz?“ zu sehen.
taz: Wie gehen Sie vor, um das philosophische Problem zu klären?
Geisler: Ich betrachte Schmerzlust aus einer phänomenologischen Perspektive. Das ist eine Strömung innerhalb der Philosophie, die den Fokus auf die eigene Erfahrung legt. Das steht im Gegensatz zur gängigen wissenschaftlichen Praxis, die meist von der Dritte-Person-Perspektive ausgeht. Dabei ist wichtig, immer wieder auf die eigene Erfahrung zurückzublicken und sie akribisch und vorurteilsfrei zu analysieren und zu beschreiben. Ich habe zum Beispiel viele Wasabinüsse gegessen, um die Empfindung detailliert beschreiben zu können.
Damit ich meine Erfahrungen nicht naiv verallgemeinere, führe ich lange, qualitative Interviews. Ich spreche ein bis drei Stunden mit Menschen, für die Schmerz eine wichtige Rolle im Leben spielt, zum Beispiel weil sie sich selbst als Masochisten bezeichnen, als Künstler:innen mit Schmerz arbeiten oder seit ihrer Kindheit chronische Schmerzen haben. Die Schilderungen sind oft sehr metaphorisch und die gilt es dann auszudeuten. Natürlich setze ich mich auch intensiv mit der Literatur über Schmerz auseinander.
taz: Was hat die Schmerzlust mit problematischen Schmerzen zu tun, mit denen Menschen zu Ärzt:innen und Therapeut:innen gehen?
Geisler: Ich bemühe mich sehr, den Schmerz nicht zu harmonisieren. Das wird ihm nicht gerecht. Aber ich greife das negative Empfinden von Schmerz als notwendiges Merkmal an und argumentiere, dass sein Empfinden aversiv ist. Das heißt, dass er weh tut, wesentlich ist. Wir erleben im Schmerz, dass etwas gegen uns andrängt, dass etwas drückt oder pocht oder sticht und wir da irgendwie von wegwollen. Wir erleben eine Gegenbewegung in uns. Wenn es sich um bewussten Schmerz handelt, der nicht bedrohlich ist, kann er manchmal auch genossen werden.
taz: Ist Schmerz ein Beweis, lebendig zu sein?
Geisler: Schmerz ist ein Zustand, der ein Weltverhältnis ausdrückt. So wie sich meine Sicht auf die Welt verändert, wenn ich verliebt bin, verändert sich die Welt auch, wenn ich Schmerzen habe oder schmerzhaft berührt bin. Ich argumentiere, dass wir sowohl im körperlichen wie auch im emotionalen Schmerz auf einer sehr grundlegenden, leiblichen Ebene unsere Verletzbarkeit erfahren – und die ist oft zu Recht eine Bedrohung. Aber eben nicht immer. Sie hat auch eine Kehrseite, die Berührbarkeit. Die kann eine Möglichkeit sein, Verbundenheit zu erleben. Wenn ich Songs von Nick Cave oder Amanda Palmer höre, werde ich schmerzhaft ergriffen. Es sind Lieder, die mir wehtun, aber es ist ein schöner Schmerz, weil ich mich mit der Welt und anderen Menschen verbunden fühle.
taz: Nicht nur die Rezeption von Kunst und Musik kann uns schmerzhaft berühren. In der Kunst wird der Schmerz auch oft gebraucht, um überhaupt erst produktiv zu werden.
Geisler: Das Klischee, dass Künstler:innen den Schmerz brauchen, will ich nicht bedienen. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, wie man Kunst machen kann. Aber es gibt natürlich Künstler:innen, wie zum Beispiel Marina Abramović, für die der Schmerz eine große Rolle spielt. In ihrer Autobiografie beschreibt die Performancekünstlerin den Schmerz als Kraft, der in der Lage ist, den Raum, die Atmosphäre und sie selbst zu verändern.
taz: Ihre Perspektive regt an, darüber nachzudenken, in welcher Hinsicht man selbst Gefallen oder Genuss am Schmerz findet. Gehen Sie so weit zu sagen, dass jeder Mensch das Phänomen kennt?
Geisler: Mit Allaussagen muss man immer vorsichtig sein. Aber ehrlich gesagt, ich glaube, dass eigentlich jeder Schmerzlusterlebnisse auf einer sinnlichen Ebene kennt, wie das lustvolle Kratzen bei einem Mückenstich. Hier scheint es so zu sein, dass sich die scharfe und auch ganz eindeutige Empfindung des schmerzhaften Kratzens gegen die komische, diffus breiige Empfindung des Juckens richtet. Gerade im Verbund mit anderen Empfindungen kann sich der leicht aversive Schmerz gut anfühlen.
taz: Lehrt uns der angenehme Schmerz etwas über den unangenehmen Schmerz?
Geisler: Meine Arbeit kann vielleicht dazu beitragen, dass wir den Schmerz ein bisschen anders betrachten. Wie wir Schmerz erleben, ist von vielen Faktoren abhängig. Dazu gehört die Bedeutung des Schmerzes und die Situation, in der wir den Schmerz empfinden. Eine Frau hat mir beispielsweise erzählt, dass sie drei Kinder zur Welt gebracht hat. Die ersten beiden Geburten seien für sie sehr schlimme Erfahrungen gewesen, weil sie dachte, dass sie den Schmerz vermeiden muss. Erst bei der dritten Geburt habe sie gemerkt, dass der Schmerz nicht bedrohlich ist, dass sie ihn annehmen und auch durch ihn hindurchgehen kann. Dadurch habe sich das Geburtserlebnis vollkommen verändert, zu einer schönen, intensiven und auch innigen Erfahrung. Die Intensität des Schmerzreizes und die Grausamkeit der Erfahrung korrelieren nicht direkt miteinander.
taz: Dem Geburtsschmerz ist die positive Seite durch das erwartete Baby bereits eingeschrieben. Haben Sie weitere Beispiele, dass Schmerzempfinden damit zu tun hat, wie wir ihm begegnen oder welche Bedeutung wir ihm zuschreiben?
Geisler: Klar, wenn ich schlimme Herzschmerzen habe und aus Angst, dass mit meinem Herzen etwas nicht in Ordnung ist, zum Arzt gehe. Der Arzt schaut sich das an und sagt dann: „Sie haben nur ein bisschen Muskelkater.“ Dann ist der Schmerz sofort nicht mehr so schlimm. Eine Frau hat mir auch erzählt, dass sie im BDSM-Kontext mit einem Partner Praktiken genossen hat, die ihr bei einem anderen Partner unangenehm waren – ohne dass dieser anders oder falsch geschlagen hätte, einfach, weil die Verbindung zueinander eine andere war.
Im Schmerz begegnen wir tatsächlich einer großen Unverfügbarkeit. Das heißt, in gewisser Hinsicht trifft er uns immer unvorbereitet. Dasselbe sehen wir auch bei der Schmerzlust. Man kann sie begrenzt planen. Es passiert mir zum Beispiel, dass ich das Barfußlaufen zunächst genieße und dann an einen Punkt komme, wo es unangenehm wird und ich mich ärgere, keine Schuhe dabei zu haben.
taz: Können wir lernen, Schmerz bewusster anzunehmen oder sogar zu genießen?
Geisler: Es gibt in BDSM-Ratgebern Übungen, die dazu anleiten. Ich finde den Gedanken spannend, dass Masochismus keine Persönlichkeitseigenschaft ist, sondern durchaus eine Fähigkeit sein könnte. Man kann schon Faktoren beobachten, die sich wiederholen und Situationen herstellen, in denen eine Chance besteht, sich dem Schmerz zu öffnen. Trotzdem bleibt eine gewisse Unverfügbarkeit.
taz: Sollten wir als Gesellschaft mehr und offener über Schmerz reden?
Geisler: Ich denke, für unser Zusammenleben ist es gut, wenn wir den Schmerz nicht abspalten. Wir neigen dazu, ihn ins Krankenhaus, in Psychotherapien oder ins Private auszulagern. Viele Menschen haben den Eindruck, dass er eigentlich nicht da sein darf und weggemacht gehört. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass es ein Recht auf Schmerz gibt und der Schmerz Raum und Zeit braucht. Ich denke, dass Räume, in denen der Schmerz kollektiv erfahren und verarbeitet werden kann, wichtig sind. Der eigene Schmerz ist keine private Empfindung. Wir können ihn teilen und wir können auch Zugang zu dem Schmerz von anderen Menschen haben.
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