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Alles auf Anfang

Eine etablierte Kreuzberger Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete muss zum Ende des Monats dichtmachen. Die Gruppe der Jugendlichen wird auseinandergerissen. Fast alle Mit­ar­bei­te­r*in­nen verlieren ihren Job

Bis vor Kurzem Zuhause für bis zu 50 Geflüchtete, ist das Jugendwohnen Urban inzwischen weitgehend leergezogen Foto: Jugendwohnen Urban

Von Klarissa Krause

Die Küche im dritten Stock wurde erst vor ein paar Monaten von den Jugendlichen und ihren Be­treue­r*in­nen bunt gestrichen. An den Wänden hängen Fotos von gemeinsamen Ausflügen. Ein paar Jungs fläzen sich mit ihren Handys auf einem der Sofas. Im Jugendwohnen Urban in Kreuzberg, zwischen Kottbusser Tor und Südstern, ist auf drei Etagen Platz für bis zu 50 unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Noch. Denn bald soll es diesen Ort nicht mehr geben.

Der Senat und der Träger, die Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin (SPI), lassen den Vertrag zum 30. April auslaufen. Die jugendlichen Be­woh­ne­r*in­nen werden derzeit auf andere Unterkünfte verteilt. Fast alle Beschäftigten verlieren ihre Arbeit. „Wir sind fassungslos“, sagt Betreuerin Katrin Adolph.

Das Jugendwohnen Urban gibt es seit 2021. Zu dieser Zeit mussten viele Notunterkünfte schnell verfügbar gemacht werden, da die Ankunftszahlen jugendlicher Geflüchteter in Berlin rapide stiegen. In den Etagen drei bis fünf des mehrstöckigen Hauses wurden schnell unbegleitete Geflüchtete zwischen 14 und 17 Jahren untergebracht. Zu Beginn wurde auf die Schnelle recht wahllos eingestellt. Doch mit der Zeit wuchs die Kompetenz.

Seit vergangenem Jahr arbeiten in der Unterkunft nur noch Fachkräfte, also Erzieher*innen, So­zi­al­päd­ago­g*in­nen oder Sozialarbeiter*innen. Nach einer offiziellen Prüfung durch den Senat erhielt die Unterkunft im Februar 2024 dann auch eine Betriebserlaubnis. Umso überraschter waren die Mitarbeiter*innen, als sie acht Monate später von der Schließung erfuhren.

Auch für die jugendlichen Be­woh­ne­r*in­nen war die Nachricht ein Schock: „Ich war sehr traurig“, sagt der 15-jährige Samet, der aus einer Stadt im Osten der Türkei geflüchtet ist. „Wir leben schon lange zusammen, kennen uns und haben uns an das Leben hier gewöhnt“, sagt der 17-jährige Khairullah aus Afghanistan, der ebenso wie alle anderen Be­woh­ne­r*in­nen nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen möchte.

Khairullah wohnt bereits seit mehr als anderthalb Jahren in der Unterkunft. Genau das ist eigentlich nicht vorgesehen. Denn Einrichtungen wie das Jugendwohnen Urban sollen nur eine kurze Zwischenstation der Jugendlichen in Deutschland sein. Die Kreuzberger Unterkunft ist seit 2022 eine sogenannte Clearingunterkunft. Während des Clearingprozesses werden Fluchthintergründe, Alter und Gesundheitszustand der jungen Asylsuchenden geklärt und der Kontakt zur Familie hergestellt. Das Clearing soll höchstens drei Monate dauern.

Danach müssen die Jugendlichen eigentlich aus der Obhut der Senatsjugendverwaltung in die der bezirklichen Jugendämter übergeben werden. Mehr als 1.100 unbegleitete Minderjährige werden derzeit von den ohnehin schon überlasteten Jugendämtern betreut. Dazu kommen noch deutsche Jugendlichen, die nicht mehr in ihren Familien leben können.

Anders als bei Not- und Clearingunterkünften für minderjährige Geflüchtete ist es bei Einrichtungen der Jugendämter sicher, dass die Jugendlichen auch fachgerecht betreut werden. Doch zuerst muss ihnen ein Platz in einer geeigneten Wohnform vermittelt werden. Je nach Jugendlichem wäre das etwa das betreute Wohnen oder eine Wohngemeinschaft.

Laut der Leiterin des Jugendwohnen Urban, Jana Drescher, haben alle Be­woh­ne­r*in­nen ihrer Unterkunft den Clearingprozess bereits abgeschlossen. „Trotzdem leben manche Jugendliche hier schon seit fast zwei Jahren“, sagt Drescher. Denn in der Jugendhilfe gebe es einfach keine Plätze.

Für Samet, Khairullah und viele weitere Jugendliche ist das Jugendwohnen Urban daher ihr erstes Zuhause in Deutschland. Hier haben sie ihre ersten Wörter in der neuen Sprache gelernt, zum ersten Mal in ihrem Leben Weihnachtsgeschenke bekommen und während des Ramadans gemeinsam gekocht.

Die Wohndauer ist dabei kein Einzelfall. In vielen Berliner Clearingunterkünften leben Jugendliche bedeutend länger als die vorgesehenen drei Monate. Der Senatsjugendverwaltung zufolge gibt es derzeit rund 750 minderjährige Geflüchtete in Berlin, die noch nicht in einer Einrichtung des Jugendamts untergekommen sind. Und nicht überall werden sie professionell betreut. „Das Jugendwohnen Urban ist eine der besseren Unterkünfte“, sagt Daniel Jasch, Leiter der Fachstelle für geflüchtete Kinder im Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen (BNS).

So habe es in anderen Clearingunterkünften in der Vergangenheit Fälle von Vernachlässigung und Verschmutzung gegeben. „Oft bleiben die Jugendlichen dort monatelang ohne adäquate Betreuung und Versorgung“, sagt Jasch. „Es gibt Standardcatering, die Jugendlichen sitzen perspektivlos auf den Fluren“, kritisiert auch Nina Hofeditz, eine Erzieherin bei Jugendwohnen Urban. Die Senatsjugendverwaltung widerspricht: „Die unbegleiteten Minderjährigen werden in allen Clearingeinrichtungen fachgerecht betreut“, so eine Sprecherin zur taz.

Doch wenn die Betreuung im Jugendwohnen Urban so gut ist, warum wird die Unterkunft dann geschlossen? Die Senatsverwaltung begründet es damit, dass derzeit weniger unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach Berlin kommen. Man finanziere daher mehr Plätze, als derzeit gebraucht würden.

Seit 2023 sinken die Ankunftszahlen von Geflüchteten insgesamt und damit auch die von unbegleiteten Minderjährigen. Waren es 2022 noch 3.200, kamen ein Jahr später 2.590, für 2024 liegen noch keine aktuellen Zahlen vor. Allerdings schwankt der Zuzug seit Jahren. Im Jahr 2016 beispielsweise stampfte die Senatsverwaltung wegen des hohen Zuzugs mehr als 2.000 Plätze für Minderjährige aus dem Boden. Dann kamen immer weniger Geflüchtete an. Unterkunft um Unterkunft wurde geschlossen. Dabei gingen vorhandene Strukturen und viel Expertise verloren.

„Wir hätten die drei Etagen gern in ein betreutes Wohnen umgewandelt“

Katrin Adolph, Jugendwohnen Urban

2021 gab es dann nur noch 90 Erstankunftsplätze für unbegleitete Jugendliche, doch die Ankunftszahlen stiegen wieder. Deshalb entstanden neue Notunterkünfte wie das Jugendwohnen Urban. Die Mit­ar­bei­te­r*in­nen mussten Strukturen und Kompetenzen aus dem Nichts wiederaufbauen.

Dasselbe Spiel wiederholt sich nun. Gab es 2024 noch 1.791 Aufnahmeplätze, werden sie in diesem Jahr auf 800 reduziert. Wieder verlieren gut ausgebildete und erfahrene Mit­ar­bei­te­r*in­nen ihre Arbeit. Denn fast alle Beschäftigten hatten befristete Verträge, die jetzt nicht verlängert wurden. Seit Oktober laufen sie peu à peu aus.

„Wir hätten die drei Etagen gerne in ein betreutes Wohnen umgewandelt“, sagt Katrin Adolph vom Jugendwohnen Urban. Schließlich warte ein Großteil der 750 Jugendlichen in den Clearingunterkünften auf einen Platz in der Jugendhilfe. Der Bedarf nach neuen Unterbringungsmöglichkeiten sei in Friedrichshain-Kreuzberg sehr groß.

Die bildungs- und familienpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Marianne Burkert-Eulitz, fordert daher, einen Großteil der Not- und Clearingunterkünfte der Senatsverwaltung in stationäre Jugendhilfeeinrichtungen umzuwandeln. Das würde bedeuten, dass diese von den Jugendämtern verwaltet werden und sich an die Standards der Jugendhilfe halten müssten. Dann dürften dort nur Fachkräfte arbeiten. Der Senat, dem die Immobilie gehört, lehnt das für das Jugendwohnen Urban ab. Das Haus werde weiter für Zwecke des Notdienstes Kinderschutz genutzt, heißt es. Dieser kümmert sich in ganz Berlin um Kinder und Jugendliche in Notlagen.

Für einige ihrer Jugendlichen konnten die Mit­ar­bei­te­r*in­nen des Jugendwohnen Urban trotz des Platzmangels nach langer Suche eine Unterbringung in der Jugendhilfe finden. Aber nicht alle haben dieses Glück. Derzeit lebt nur noch weniger als ein Drittel der Jugendlichen in der Unterkunft. „Ich weiß nicht, wo ich Ende April hinziehe“, sagt Khairullah. Sollte er bis dahin keinen Platz bekommen, wird er in eine andere Clearingunterkunft umgesiedelt.

Demonstration der Jugendlichen vor dem Abgeordnetenhaus im November 2024 Foto: Jugendwohnen Urban

„Es macht mir und den Jugendlichen Angst zu wissen, dass einige von ihnen nun vielleicht in Häuser geschickt werden, in denen es nicht so muckelig und nett wie hier ist“, sagt Erzieherin Nina Hofeditz. Sie betont das familiäre Klima im Jugendwohnen Urban, das in vielen gemeinsamen Stunden mit den Jugendlichen entstanden sei.

Ihre Kollegin Katrin Adolph verweist darauf, dass der Umzug in eine andere Clearingunterkunft für die Jugendlichen eine erneute Desorientierung bedeuten kann. Das sei Gift für die Integration. „Das gibt den Jugendlichen kein positives Gefühl des Willkommenseins.“ Gerade um jüngere Bewohner ihrer Unterkunft macht sich die Etagenleiterin Sorgen.

Der 18-jährige Baran aus Afghanistan hat gerade erst einen WG-Platz gefunden, wie er fröhlich beim Deutschsalon am Küchentisch erzählt. Aber auch ein wenig Trauer wegen des nahenden Abschiedes ist dabei. Bald muss er die Höhen und Tiefen des Alltags allein bewältigen. „Die Be­treue­r*in­nen hier haben uns geholfen wie eine Familie“, sagt Baran.

Transparenzhinweis: Die Autorin gibt seit Sommer 2024 ehrenamtlich Deutschunterricht in der Unterkunft Jugendwohnen Urban.

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