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In der Medizin sind nicht alle gleich

Nicht nur körperliche Faktoren entscheiden in Deutschland, wie gesund die Bürgerinnen und Bürger sind. Es gibt aber Bestrebungen, das zu ändern

Stress auch bei Medizinern in der ­Notaufnahme Foto: Lars Berg/laif

Von Stefanie Uhrig

Das gesetzliche Gesundheitssystem in Deutschland soll mehr Gleichheit zwischen den Menschen schaffen und unabhängig vom Geldbeutel dafür sorgen, dass jede Person ein gesundes Leben führen kann. In der Realität ist es dennoch so, dass Menschen mit weniger Geld eher krank werden. Das zeigt sich deutlich in den Gesundheits­daten: Krebs, kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes kommen bei Menschen mit wenig Geld häufiger vor als bei Wohlhabenden, ebenso psychische Störungen.

Selbst bei der Lebenserwartung ist die Ungleichheit sichtbar: Frauen mit niedrigem Einkommen leben im Schnitt 4,4 Jahre kürzer als solche mit hohem Einkommen. Bei Männern sind es sogar 8,6 Jahre. „Wir sehen große soziale Unterschiede bei vielen chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, starkem Übergewicht, Diabetes und verschiedenen Krebserkrankungen“, sagt die Medizinsoziologin Stefanie Sperlich von der Medizinischen Hochschule Hannover.

In Ländern wie den USA, in denen die gesundheitliche Versorgung über die Marktwirtschaft geregelt ist, stehen viele Kranke allerdings vor deutlich größeren Problemen. „Bei uns geht es dagegen nach dem Solidarprinzip, bei dem es einen an das Einkommen gebundenen Versicherungsbeitrag gibt – aber alle Menschen das gleiche Leistungsspektrum bekommen.“

Weshalb aber existiert trotz der gesetzlichen Krankenkassen eine soziale Ungleichheit? Entscheidend ist dabei nicht nur das Einkommen, betont Sperlich: „Zusätzlich muss man auch die berufliche Situation und die Bildungsbenachteiligung im Blick haben.“ So birgt etwa Schichtarbeit in einer Produktion andere gesundheitliche Risiken als ein Bürojob, und eine Person aus der Chefetage kann sich möglicherweise größere Freiheiten nehmen als die Angestellten. Hinzu kommt die Bildung: Wer mehr über Medizin und Gesundheit weiß, kann sich besser um sich selbst kümmern, beispielsweise auf eine gute Ernährung achten und aktiv Stress reduzieren. Ein Beispiel dafür ist Diabetes im Erwachsenenalter (Typ 2), Risikofaktoren dafür sind unter anderem Übergewicht, zu wenig Bewegung und chronische Stressbelastung.

„Überhaupt ist es nicht selbstverständlich, sich über die Gesundheit Gedanken zu machen“, sagt Sperlich. „Wer sich ständig Sorgen um die Miethöhe macht, hat weniger Kapazitäten, auch noch an die Gesundheitsvorsorge zu denken.“ Das zeige sich vor allem bei der Früherkennung. Viele Erkrankungen können besser behandelt oder gar geheilt werden, wenn sie möglichst früh entdeckt werden. Deshalb gibt es verschiedene Screening-Angebote: Frauen zwischen 50 und 70 Jahren etwa können alle zwei Jahre eine Mammografie zur Brustkrebserkennung durchführen lassen. Eine Untersuchung für Hautkrebs wird bei Männern und Frauen ab 35 Jahren ebenfalls im Zwei-Jahres-Rhythmus vorgeschlagen und Männer können ab 45 Jahren jährlich zur Prostata-Vorsorge.

Wer solche Termine wahrnimmt, hängt allerdings stark mit sozioökonomischen Faktoren zusammen, sagt Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (Degam): „Inzwischen ist wissenschaftlich gut belegt, dass Früherkennungsmaßnahmen vor allem diejenigen erreichen, die sozial privilegiert sind und geringere gesundheitliche Risiken haben.“

Dazu kommt, dass Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen oft in ungünstigeren Umgebungen leben: etwa in Wohnungen ohne Klimatisierung, die im Sommer viel zu heiß und durch schlechte Dämmung im Winter ungemütlich kalt werden. Oder die an viel befahrenen Straßen liegen und somit die Gesundheit mit einer schlechteren Luftqualität und ständigem Lärm belasten. All das kann die Entstehung oft chronischer Erkrankungen begünstigen.

Die Aufzählung möglicher Ursachen von sozialen Unterschieden im Erkrankungsrisiko ist damit keinesfalls komplett – von der Mobilität und der Stigmatisierung über Schwierigkeiten mit der Sprache bis zur konsequenten Medikamenteneinnahme könnten noch viele weitere Aspekte eine Rolle spielen.

Immerhin gibt es Überlegungen dazu, wie die Lücke zumindest verkleinert werden kann. So betont die Degam den Wert der „sprechenden Medizin“: Hausärztinnen und Hausärzte sollten sich mehr Zeit für Menschen nehmen, die etwa von Sprachbarrieren oder finanziellen Schwierigkeiten betroffen sind – und das auch adäquat vergütet bekommen. Dazu gehört eine gute Zusammenarbeit von Praxen und sozialen Beratungsstellen.

Die Medizinsoziologin Sperlich stellt auch die Bedeutung der Hausarztpraxis für eine gute Vernetzung zwischen hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung heraus. „Für manche Menschen ist es eine große Herausforderung, die nötigen Termine bei mehreren Ärzten zu koordinieren – das setzt Aufwand und Kompetenz voraus.“ Die Übernahme dieser Lotsenfunktion ist häufig keine leichte Aufgabe in Hinblick auf den Fachkräftemangel auch in Arztpraxen und auf die ausgelasteten Wartezimmer. Gerade in diesem Aspekt geht es derzeit aber eher bergab: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) verzeichnet in einer Untersuchung seit 2007 einen beständigen Rückgang von Einzel- und Gemeinschaftspraxen – wobei hier auch Facharztpraxen eingerechnet sind. Das sei einer der Gründe, warum für die Behandlung der einzelnen Patienten und Patientinnen immer weniger Zeit sei, so die KBV. Und das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung schätzt, dass bis zum Jahr 2040 etwa 30.000 bis 50.000 Ärztinnen und Ärzte fehlen könnten. Keine guten Voraussetzungen für die Förderung der „sprechenden Medizin“.

„Wer sich ständig Sorgen um die Miethöhe macht, hat weniger Kapazitäten, an die Gesundheits­vorsorge zu denken“

Stefanie Sperlich, Medizinerin

Andere Ansatzpunkte wären beispielsweise, die Stigmatisierung verschiedener Erkrankungen durch Bildungsangebote zu verringern und das medizinische Wissen in der Bevölkerung zu stärken – mit Fokus auf finanziell benachteiligte Menschen. Dabei können auch Präventionsangebote im Mittelpunkt stehen, damit manche Krankheiten gar nicht erst auftreten.

Hilfreich und schwierig zugleich könnte sich die Digitalisierung im Gesundheitswesen gestalten. Einerseits bemängelt der Hausärztinnen- und Hausärzteverband, dass moderne Technologien in Deutschland in der medizinischen Versorgung bisher kaum zum Einsatz kämen – im Gegenteil zu anderen europäischen Ländern.

Andererseits ist man sich einig, dass die Digitalisierung zunehmen wird, etwa mit der elektronischen ­Patientenakte. Das bietet die Möglichkeit, Daten zu bündeln, und ermöglicht es den Ärz­t:in­nen, effizienter zu arbeiten. Aber dann gilt es, auch in diesem Bereich soziale Ungleichheiten zu vermeiden: Nicht alle Menschen haben Zugang zu ­digitalen Geräten oder kommen mit Apps, Chatfunktionen und Zwei-Wege-Authentifikation klar. Dafür zu sorgen, dass auch diese Menschen ­einen guten Zugang zum Gesundheitswesen haben, muss als Aspekt der Digitalisierung mitgedacht werden.

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