orte des wissens: Synapsen unterm Mikroskop
Das Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universitätsmedizin Göttingen beobachtet lebendes Gewebe und befördert die Tumorforschung – das bedeutet vorerst auch: Tierversuche
Kinder kennen das: Irgendwann bekommt man ein Mikroskop geschenkt, und zuweilen ist, neben Skalpell und Pipette, sogar eine Anleitung zur Garnelenzucht dabei. Viele fesselt das nur kurz. Manche triggert es, sich der Wissenschaft zu verschreiben. Was im Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), Georg-August-Universität, zum Einsatz kommt, spielt in einer anderen Liga. Hier geht es um Nanoskopie, hochauflösende Mikroskopie, die Lebendes beobachtet, während es sich entwickelt. „Wir können der Biologie bei der Arbeit zusehen, ohne sie zu stören“, sagt Neurobiologe Valentin Nägerl, seit September 2024 Direktor des Instituts. „Aber wir sind auch nicht rein deskriptiv. Punktuell können wir manipulieren, steuern.“
Nägerl, vorher an der Universität Bordeaux Professor für Neurowissenschaften und Biobildgebung, hat die „Niedersachsen-Professur“ des Förderprogramms „zukunft.niedersachsen“ im Gepäck, aufgelegt vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der Volkswagen-Stiftung. 3,7 Millionen Euro stehen zur Verfügung, für fünf Jahre. Mit Valentin Nägerl beginnt im Institut für Anatomie und Zellbiologie eine neue Ära. „Jetzt haben wir die Möglichkeit, zu modernisieren“, sagt er. In Technik werde investiert, ins Team. Die Lehre werde partizipativer.
Nägerls Mikroskopie reicht dabei bis hinunter auf die Synapsen-Ebene, beobachtet den Kommunikationsraum von Nervenzellen. Sie öffnet ihm den Blick in die Mikrostruktur lebenden Hirngewebes – Forschung im Kontaktfeld von Anatomie, Physiologie und Biochemie.
Der Blick hinein ins lebende Gewebe bedeutet aber auch: Versuche an Mäusen und Ratten. Etwa für die Tumorforschung, für die bei Tieren Krebs erzeugt wird. Dessen Verlauf wird in Echtzeit beobachtet, durch eine Öffnung in der Schädeldecke. Ob Nägerl dabei ethische Bedenken hat? „Ja und nein“, sagt er. „Aus der Abwägung heraus, dass Tierversuche in der Grundlagenforschung unerlässlich für den medizinischen Fortschritt sind, insbesondere in der Diagnostik und Therapie von Krebs sowie neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer.“ Aus „ethischen und wissenschaftlichen Gründen“ befürworte er die 3R-Regel (Replace, Reduce, Refine), „um den Einsatz von Tieren in der Forschung so weit wie möglich zu minimieren und ihr Leiden zu reduzieren“.
„Tierversuche mit Tiermodellen menschlicher Krankheiten gehen zwangsläufig mit Tierleid einher“, räumt er ein. Moderne Mikroskopie- und OP-Techniken seien aber so verfeinert, „dass Schmerzen weitgehend minimiert werden – schmerzhafte Eingriffe erfolgen unter Anästhesie“. Tiere mit eingebautem ‚kranialem Fenster‘ führen, sagt er, „anscheinend ein normales Leben“.
„Tierversuche sind nicht zu rechtfertigen – weder moralisch noch wissenschaftlich“, schreibt indes Sabrina Engel, Fachreferentin bei der Tierrechtsorganisation Peta Deutschland, auf taz-Anfrage. „Für die Experimente setzen wir Tiere absichtlich unvorstellbaren Qualen aus“. Es bestünden „signifikante Unterschiede zwischen Menschen und anderen Tieren“. Die Übertragbarkeit von Ergebnissen aus Tierversuchen auf menschliche Organismen sei „äußerst begrenzt“.
95 Prozent der Medikamente, die in Tierversuchen wirkten und als sicher eingestuft würden, hätten „beim Menschen keinen Erfolg“, sagt sie. Somit seien Tierversuche auch rechtlich „nicht zu legitimieren“, denn laut EU-Richtlinie 2010/63 müssen Schäden, die Tieren während der Versuche zugefügt werden, durch das erwartete Ergebnis gerechtfertigt sein. „Wer heute noch weiter an Tierversuchen festhält“, schreibt sie, „hält an einer mittelalterlichen Ethik und Wissenschaft fest“.
Harff-Peter Schönherr
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