: Ein Juwel aus Fleisch
„Es ist gewiss, dass der Markt weiterleben wird“, beteuert Greg Lawrence, Sprecher der Händler. Aber wo? Aus dem Zentrum soll Londons traditionsreicher Fleischmarkt weichen – sein Grundstück dürfte bald selbst zerlegt werden wie ein Stück Rind. Ein Besuch

Aus London Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
Männer in weißen, mit Blut befleckten Kitteln schieben unter grellem Licht Einkaufswagen mit allen möglichen Fleischpaketen hin und her. Manche von ihnen schaffen es gerade so, die in Kartons oder Folie verpackten Fleischberge auf den Schultern zu balancieren. Andere fahren mit voll beladenen Gabelstaplern herum. Es ist eine kalte Januarnacht im Smithfield Market, dem tausend Jahre alten zentralen Fleischmarkt Londons. Die Uhr in der Mitte des Gebäudes, die von allen Seiten eingesehen werden kann, zeigt halb drei am Morgen. Unter den stählernen Arkaden des viktorianischen Baus herrscht seit dreieinhalb Stunden Hochbetrieb. In der Mitte der Halle führen je nach Ost und West die Verkaufsstraßen. In deren Eingang hängen große durchsichtige Streifenvorhänge aus Kunststoff.
Auf insgesamt 25.000 Quadratmeter breitet sich der zentrale Fleischmarkt Smithfield Market aus, der in dieser Gestalt 1886 eröffnet wurde. Damals gab es sogar eine unterirdische Haltestelle für Fleischlieferungen, die durch einen Abzweig mit der weltweit ersten U-Bahn verbunden war. Doch bis 2028 will die Stadtverwaltung der City of London den Fleischmarkt schließen. Ein traditionsreicher Teil von London wird dadurch verloren gehen.
Einst war hier nur ein Feld vor der Stadtmauer. Dorthin wurde das Vieh aus dem ganzen Land transportiert, um verkauft oder sofort geschlachtet zu werden. Wegen dieser Herden wurde Smithfield sogar zum geografischen Orientierungspunkt, von dem aus die Entfernung nach London gemessen wurde.
Nach 1852 wurde das Schlachten mitten in der Stadt beendet und ausgelagert. Es entsprach nicht mehr den sensiblen Vorstellungen der viktorianischen Zeit. Und auch die mit dem Smithfield Market verbundene Bartholomew Fair fand mit den geänderten Moralvorstellungen im 19. Jahrhundert ihr jähes Ende. Die Bartholomew Fair war ein allwöchentliches blutiges Spektakel inklusive öffentlicher Hinrichtungen, bei denen besonders hohe Mengen Bitterbier und gegrilltes Fleisch verkauft wurden. Todesurteile wurden danach bis 1964 nur noch hinter Gefängnismauern vollstreckt.
Heute geht es auf dem Smithfield Market weniger spektakulär zu. Hinter den Theken der Händler, die teils selbst schon wie Museumsstücke wirken, reden Verkäufer mit Kunden oder grübeln über Rechnungen. „Ich gebe dir den Rest der Schultern zum Sonderpreis“, feilscht einer. Aus allen Ecken brummen Kühlschränke und in den Kühlräumen zerlegt Personal Fleischhaufen mit scharfen Messern und verpackt die einzelnen Stücke. Außen, um den Markt herum, parken Lkw aus allen Regionen Englands, aber auch aus Frankreich und Italien, und werden ausgeladen.
Es ist halb vier, da lädt der 49 Jahre alte Metzger Craig Atkins frisch zugeschnittene Ware in seinen Kombi. „Dieser Markt ist eine Institution“, beginnt er. „Mein Vater war Metzger mit zwei Läden im Londoner East End und mein Sohn ist heute mit einem der beiden Lieferwagen mit dabei“, erzählt er. Die Ware heute gehe direkt an einen Kunden mit Golfplatz. „Es ist wirklich schade, dass er geschlossen werden soll, denn es ist ein lebendiger Markt mit den besten Meistermetzgern im Land.“ Wichtig sei, dass der neue Platz für den Markt nicht zu weit entfernt liege.
Die Verkaufszonen sind auf beiden Seiten mit Stahlzäunen von der Durchgangsstraße abgetrennt, durch die Kleintransporter fahren. Hier sind nicht nur Reihen alter roter Telefonzellen zu bestaunen, sondern auch eine alte Fotos, die an die Geschichte des Marktes erinnern, darunter natürlich auch eines mit der verstorbenen Queen. Die vier Lieferanteneingänge sind voll mit bestelltem Fleisch und Geflügel und in den Kühlzellen hängen gewaltige Tierhälften, hier Schwein, dort Rind, hinten Lamm.
Gegenüber dem Markt aber vermischen sich die Rufe der Marktarbeiter und der Lärm der Laster mit dem Lachen der Leute, die vor einem der bekanntesten Londoner Clubs, dem Fabric, in der Schlange stehen. In dem 24-Stunden-Café La Forchetta herrscht ebenfalls reger Betrieb bei starkem Kaffee, italienischen und englischen Gerichten und einer schlecht gelaunten Bedienung mit greller Schminke. Im Laden nebenan verkauft der 24-jährige Inder Raj Singh Zigarettenpapier, Schokolade, Kaugummis und Energiedrinks.
Dass der Markt schließen soll, mag mit dem veränderten Grundstückswert in diesem Stadtgebiet zusammenhängen. Erst letztes Jahr bezeichnete die Times das Stadtviertel Clerkenwell, in dem sich der Markt befindet, als den besten Ort, an dem man derzeit in London leben könne. Die Eröffnung einer Haltestelle der neuen Ost-West-Bahnverbindung Elizabeth Line in Farringdon in unmittelbarer Nähe des Marktes vor drei Jahren schien die Zukunft des Fleischmarktes im Herzen der Stadt endgültig zu besiegeln. Vielleicht ist das der Grund, dass dort, wo es früher nur Fleischgerichte gab, eine vegane Restaurantkette und eine französische Patisserie ansiedelten, während die ab sieben Uhr morgens geöffnete Arbeiterkneipe Fox & Anchor zwar noch da ist, aber mit edlen Weinen und Gerichten versucht, ebenfalls feinere Geschmäcker anzusprechen.
Trotzdem zeugt sein City-Frühstück weiter von der Verbundenheit zum Fleischmarkt. Für umgerechnet 35 Euro gibt es Beachtliches: Eier, Speck, Apfelwürstchen, Rumpsteak, Lammniere und Black Pudding zu gerösteten Tomaten, Champignons, Baked Beans, frittiertem Brot und dazu ein Guinness. „Manche Leute kommen seit Jahren am selben Tag zur selben Stunde“, erzählt einer vom Personal und deutet auf einen Mann, der in einer Nische aus dunklem Holz sitzt. „In Zukunft werden wir auf Touristen umstellen“, sagt Raj in seinem Laden. Schon jetzt übernimmt er die Schlüsselübergabe für zahlreiche Urlaubsappartments ringsum.
Gleichzeitig mit dem Smithfield Market soll auch noch der Fischmarkt Billingsgate schließen, der bereits 1982 vom Ufer der Themse in die Docklands verlegt wurde. Auch er untersteht der City of London. Billingsgate, damals im Brachland der alten Docklands neu errichtet, steht heute unmittelbar vor dem Bankenviertel Canary Wharf. Wo weitere Hochhäuser gebaut werden könnten, ist so ein Markt vor der Nase womöglich nichts anderes als stinkender Fisch. Beide Märkte würden mit ihrer Schließung den einstigen Londoner Gemüse- und Fruchtmärkten Covent Garden und Spitalfields folgen, die 1974 beziehungsweise 1991 geschlossen wurden und heute größtenteils als Yuppie- und Tourismuszonen neu erfunden wurden, während der alte Gemüsehandel in moderne Großmarkthallen umzog.
„Ich würde diesen Ort nicht als ein weiteres Covent Garden Café sehen wollen. Davon gibt es schon genug. Es geht immer nur um Money, Money, Money!“, sagt John Hindley. Er war 19, als er seinem Onkel folgte und im Geflügelbereich des Marktes einen Job annahm. Inzwischen ist er 70 und verkauft über 2.000 italienische und spanische Fleisch- und Milchprodukte. Sein 32-jähriger Sohn hilft ihm dabei. Auch er ist überzeugt, dass der Markt aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen wird. „Die wollen uns nicht mehr, und um die Geschichte machen die sich keine Gedanken.“

Zunächst wollte die Stadtbehörde noch Alternativen anbieten, einen neuen Markt etwa in Dagenham am östlichen Stadtrand. Doch daraus wurde nichts und den Händlern wurde lediglich eine Abfindung in Aussicht gestellt. Nun wollen sie sich aber selbst darum kümmern, dass der Markt weiterlebt. Der neue Standort ist noch nicht beschlossen, doch einige verrieten bereits, dass es in Vauxhall sein könnte, immer noch recht zentral, allerdings auf der anderen Seite der Themse. Der alte Hindley will dem Markt folgen, unabhängig davon, wo er sein wird. „Auf der Couch herumzuhocken, das ist nichts für mich, auch wenn mir dieses schöne Gebäude fehlen wird. Aber die Kameradschaft, die wird bleiben.“
Schon länger ist bekannt, dass in die bereits seit über zwei Jahrzehnten leerstehende Westseite des Smithfield Markets das Museum of London einziehen wird. Die Arbeiten zur Eröffnung 2026 laufen auf Hochtouren. Dass dieser Teil überhaupt gerettet und nicht abgerissen wurde, ist laut dem Stadthistoriker Tom Bolton nur dem Engagement einer kleinen Interessengemeinschaft zu verdanken. Inzwischen gibt es im Internet auch eine Petition gegen die Schließung des Marktes, knapp 30.000 haben bereits unterschrieben. Was mit der Ostseite geschehen soll, will die Stadtverwaltung öffentlich in Verfahren und Konsultationen prüfen lassen, sagte sie der taz.
Unter den viktorianischen Dächern gibt es viel Geschichte, allerdings auch Traditionen, die längst obsolet geworden sind. So befindet sich das Management über den Verkaufs- und Zerlegungsebenen im Parterre, ganz nach der Klasseneinteilung in „upstairs, downstairs“ – „oben und unten“. Die meisten der Verkäufer, Metzger und Träger sind Männer, während in den kleinen Büros vornehmlich Frauen die Buchhaltung führen. Maria Parpotta ist eine von ihnen. „Wir sind hier an die dreißig bis vierzig Frauen und man muss schon die üblichen Bemerkungen hinnehmen. Aber es ist harmlos“, beteuert die 52-Jährige, die hinter einem großen Taschenrechner und einem Geldscheinzähler sitzt. Die Nachtschicht sei nicht immer leicht, gesteht sie. Der Job gebe ihr jedoch ein sicheres Einkommen und erlaube es ihr zudem, tagsüber zusätzlich als Kosmetikerin zu arbeiten. Die Frauen im Smithfield Market sind viele im Vergleich zum Fischmarkt, wo es nur vier oder fünf Büromitarbeiterinnen unter etwa hundert Männern geben soll.
Mitten im Markt trifft man auch Menschen wie Theresa und Kienge Morais, 36 und 44 Jahre alt. Das Ehepaar ist extra aus Southend-on-Sea, siebzig Kilometer östlich von London, zum Privateinkauf gekommen. „Wir machen das alle zwei Monate und kaufen verschiedene Fleischsorten. Dafür buchen wir wegen der Uhrzeit stets ein Hotel“, sagt Kienge. Trotz Anreise und Übernachtungskosten lohne es sich, versichern die beiden. Wenn der Markt umzieht, würden sie ihm einfach folgen.
Vor den Hallen steht der aus Uganda stammende Drake Kyeyune in Neonjacke und mit Dienstmütze und beobachtet eine Schar Tauben am Eingang. Kyeyune ist einer der Sicherheitsleute, aber gegen die Tauben kommt auch er nicht an. „Die schlafen nie!“, schimpft er. Mit dem Schlafen ist das auch für ihn so eine Sache, denn die Sicherheitsleute arbeiten in sich stets ändernden Schichten, mal tagsüber, mal nachts. Das sei nicht immer einfach, sagt er. Passiert hier denn viel? „Hin und wieder greift sich jemand eine Box mit Fleisch, aber nicht oft.“ Mit seinen 64 Jahren wird dies sein letzter Arbeitsplatz sein, glaubt Kyeyune. „Ich verstehe nicht, dass sie diesen traditionsreichen historischen Markt schließen wollen, so eine lange Geschichte, Hunderte von Jahren“, sagt er und schüttelt den Kopf.
Craig Atkins, Metzgermeister, über den Smithfield Market
Einer bezeichnet diese Geschichte und diesen Ort sogar als Juwel Londons. Greg Lawrence begann 1960 als 16-jähriger Gehilfe auf dem Markt. Heute gehört ihm nicht nur eins der großen Geschäfte, sondern Smithfield ist auch Arbeitsplatz seines Sohnes und seines Enkels. Als einer der Ältesten auf dem Markt ist Lawrence auch Sprecher der Händlervereinigung und Mitglied des bis ins Jahr 1376 zurückgehenden Court of Common Council, des traditionellen Stadtrats der City of London. Mit starkem Cockney-Akzent beschreibt der kräftig gebaute Hobbyboxer seine Leidenschaft für den Markt: „Es ist das Feilschen über ein halbes Pfund Fleisch, bei dem am Ende der Kunde trotzdem immer recht hat“, antwortet er auf die Frage, was diesen Ort besonders macht. Denn auch der Kundendienst sei stolze Tradition.
Einst hätten Zehntausende auf dem Markt gearbeitet, doch auch heute, wo es eher ein paar Hundert sind, mache der Markt jährlich noch 1,5 Milliarden Pfund Umsatz, umgerechnet 1,77 Milliarden Euro. „Es ist gewiss, dass der Markt selbst weiterleben wird. Etwa 75 Prozent von uns sind bereit, woanders einen neuen Smithfield Market ohne die Stadtbehörde zu eröffnen.“ Über die unterschiedlichen Orte, die infrage kommen, darf er derzeit nichts sagen. Es sei wichtig, optimistisch zu bleiben. „Ich habe immer geglaubt, wenn der Preis richtig ist, kaufen die Leute, und wenn du gut genug bist, wird dies auch zu guten Umsätzen führen und eine neue Großmarkthalle könnte sogar lang notwendige und verbesserte Lager- und Kühlmöglichkeiten bieten“, glaubt er.
Auf dem Fischmarkt in Billingsgate gibt es ebenfalls jemanden, der mit 16 Jahren hier anfing. Steve Clements stammt so wie Lawrence aus dem Londoner East End. „Ich begann noch auf dem alten Marktgelände aus dem Jahr 1850“, schildert er und erzählt von Steinboxen voller Fisch und wahnsinnig starken Trägern. Auch die Geschichte des Londoner Fischmarkts gehe weit zurück, ja, bis in die Zeit der Römer.
Als der alte viktorianische Billingsgate Market am Themseufer geschlossen wurde, der heute als Veranstaltungsort dient, machte Clements den Umzug in die Docklands mit. Das einst moderne Gebäude ist inzwischen renovierungsbedürftig. Nicht nur durch das Dach tropfe es. Wo man nur hinblickt, stehen Styroporkisten voller Eis mit Fischprodukten und Meeresfrüchten, Muscheln und Garnelen, in einigen Aquarien tummeln sich lebende Lobster. Auch hier mischen sich Großeinkäufer und Restaurantbesitzer mit Londoner Einwohnern.
Hier und da wird gefeilscht, während andere Aufträge für die nächste Woche auf großen Kalenderseiten vermerken. Einige reinigen bereits den Boden um ihren Laden mit Wasser. „Hier sind jeden Tag andere Leute aller Nationalitäten und jeden Tag gibt es andere Fische“, schwärmt Clements und erzählt, dass vieles gar nicht mehr aus britischen Gewässern stamme, sondern aus Sri Lanka, Südamerika und dem Nahen Osten.
Nach Arbeitsende kehren sowohl Händler als auch Käufer in der kleinen, rammelvollen Imbissstube des Marktes ein. Einer von ihnen, im weißen Kittel und mit blauer Wollmütze, ist John Holland, 66, Fischverkäufer für einen Händler auf dem Billingsgate Market. Er studiert die Bilder, die meisten in Schwarz-Weiß, die hier überall an den Wänden hängen, Fotos von Menschen, die über die Jahre auf dem alten und hier auf dem „neuen“ Markt gemacht wurden. „Den kannte ich, die beiden kannte ich, der ist inzwischen verstorben, die beiden sind noch hier …“, bemerkt er, bis er schließlich auf ein Foto seines eigenen Ladens in den achtziger Jahren stößt. „Ich kann mich noch genau daran erinnern“, beginnt er, doch dann brechen seine Worten ab. Was folgt, ist Schweigen. Warum ihm das Geschäft nicht mehr gehört, behält John Holland für sich. Es ist Steve Clements, der es schließlich auf den Punkt bringt: „Das Leben, das ich hier auf dem Markt erlebte – ich würde es um nichts in der Welt gegen ein anderes eintauschen.“
„Wir werden versuchen, die Erinnerungen als Geschichten, die auf dem Gelände und digital erzählt werden, und durch das vorsichtige Konservieren der Marktgebäude sicherzustellen und wachzuhalten“, heißt es vom Museum of London auf Anfrage der taz zur Zukunft des Fleischmarktareals. Es klingt wie eine Grabrede.
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