: Zeit für Bildung
„Corona hat uns aus der Bahn geworfen“, sagt Saadet Yaman. Für die Kita-Leiterin aus Köln hat sich dadurch ein Problem verschärft: Kitas sollen die Kleinsten nicht nur betreuen, sondern auch bilden. Doch dazu bräuchte es mehr Mittel

Aus Köln Uta Schleiermacher(Text)und Sandra Stein (Fotos)
Die Kinder haben sich auf Teppichen und Kissen versammelt und singen das Ankommenlied. Ein Mädchen meldet sich, um Assistentin zu sein. „Welcher Tag ist heute?“, fragt Saadet Yaman, die Leiterin der Kita. „Montag“, sagt das Mädchen, es soll für diesen Text Laura heißen. „Montag ist der Beginn der Woche“, entgegnet Yaman. „Das hatten wir schon.“ – „Dienstag“ – „Dienstag war gestern“, antwortet Yaman geduldig. „Mittwoch!“ Die Leiterin nickt. Sie nimmt eine Karte, auf der „Mittwoch“ steht, und fragt alle Kinder: „Welche Jahreszeit haben wir denn?“ Und am Ende des Morgenkreises wird dort auch eine Karte für das Wetter liegen, die Kinder haben sich auf „bewölkt“ geeinigt.
Dieses allmorgendliche Ritual hilft den Kindern des Kindergartens in Köln-Ehrenfeld jeden Tag beim Ankommen. Es ist Teil der frühkindlichen Bildung, denn: „Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege haben einen eigenständigen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag“, steht im Kinderbildungsgesetz von NRW. Der Ehrenfelder Kindergarten gehört zu Fröbel, einem der größten Träger von Kindertagesstätten in Deutschland, der in seinem Konzept explizit Wert legt auf Bildung, etwa in Demokratie, Kultur oder nachhaltiger Entwicklung.
Ein Junge im Morgenkreis sagt: „Ich habe eine Nacktschnecke gesehen, die hat mich verfolgt. Und dann ist sie an einem Haus hochgekrabbelt.“ – „Ihr wisst viel über Schnecken“, sagt eine Erzieherin und bohrt: „Die Schnecke trägt ihr eigenes Haus. Stimmt das oder stimmt das nicht?“ Ein Mädchen erzählt von Schnecken im Garten ihrer Oma
„Bildungsmomente“ nennt Petra Löbach das, Themen, die die Kinder mitbringen oder die in der Kita entstehen, und bei denen die Erzieher*innen einhaken können. Löbach ist regionale Fachberaterin, begleitet und berät 13 Fröbel-Kitas in Köln. Bildungsmomente können viele Situationen sein, sagt sie und zeigt auf einen Stapel Teller. Ein blau-weiß gemusterter Teller steht auf einem mit Goldrand, darunter einer in Rosa. Daneben stehen Müslischalen, dickwandige, gestreifte, gläserne, weiße und bunt gemusterte.
„Teller, Besteck, Becher, Gläser, Schalen – all das ist teils vom Trödelmarkt, teils aus Spenden“, sagt Löbach. „Wir haben absichtlich kein einheitliches Kantinengeschirr“, sagt sie. „Damit macht das Tischdecken mehr Spaß – und es schafft ‚Sprachanlässe‘.“ Kinder hätten dann auch schnell eine Schüssel, aus der sie besonders gern essen. „Wenn nun mehrere Kinder dieselbe Schale wollen, sind wir schon beim großen Thema.“ Löbach nennt es Lebensbildung: Die Kinder lernen dabei, zu verhandeln, Konflikte zu lösen und Kompromisse zu schließen. „Das sind auch die sozial-emotionalen Kompetenzen, die die Kinder in der Schule brauchen“, sagt Löbach. „Doch in Zeiten, in denen es personell eng ist, fehlt dann genau die Zeit, solche Momente intensiv zu begleiten.“
Oft hätten Menschen keinen richtigen Zugang zu ihren Bedürfnissen, sagt Löbach. „Wir wollen hier vermitteln: Kein Gefühl ist schlecht, aber den Umgang mit Gefühlen, den können und müssen wir üben.“ Das mache Menschen widerstandsfähig – der Fachausdruck dafür sei „Resilienzförderung“. Und es lasse sie Selbstwirksamkeit erfahren, also erleben, dass etwas, was sie aktiv tun, auch eine Auswirkung hat, auf die Welt oder auf ihr inneres Gleichgewicht. Und das üben die Kinder idealerweise schon im Vorschulalter. Allerdings stellt dieser Anspruch die Kitas zunehmend vor Herausforderungen.
Denn in den Kitas wirkt auch die Coronapandemie nach. Verschiedene Studien zeigen: Der Förderbedarf ist gestiegen, besonders in der sozialen und emotionalen Entwicklung brauchen mehr Kinder mehr Unterstützung als vorher. Auch sprachlich oder motorisch sind Kinder zurückgefallen, psychische Probleme haben zugenommen. „Die Kinder sind während der Pandemie geboren, sie hatten wenig Kontakte und kaum externe Angebote. Da sind mehrere Jahrgänge in den Kitas, die viel nachholen müssen.“ Sie seien teils nicht altersgerecht entwickelt, es brauche viel Geduld, die Kinder zu unterstützen, ihre Gefühle wahrzunehmen und zu kennen. „Raum und Zeit für Gefühle: das haben die Pandemie-Kinder teilweise verpasst.“
„Es wird empfohlen, in den Kitas kleinere Betreuungsgruppen beziehungsweise bessere Personalschlüssel einzusetzen und zu evaluieren“, lautet das Fazit aus einer Befragung von Kitaleitungen. Doch die Realität sieht anders aus: In Berlin scheiterte im vergangenen Herbst der Versuch von Erzieher*innen, mit einem Streik einen verbesserten Betreuungsschlüssel durchzusetzen. In Regionen in Ostdeutschland, wo die Zahl der Kinder zurückgeht, sehen sich Träger gezwungen, Kitaplätze abzubauen, anstatt weniger Kinder zu besseren Bedingungen zu betreuen. Und in NRW organisierten sich die freien Träger, unter anderen Fröbel, im Mai 2024 im Kitabündnis. Sie fordern eine echte und direkte Refinanzierung von Tarifsteigerungen, weil die vom Land gezahlten Pauschalen den Finanzbedarf nicht deckten. „Nur wenn Kitas finanzielle Planungssicherheit haben, können sie ihren Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen bieten und eine qualifizierte frühe Bildung verlässlich leisten“, heißt es in einer aktuellen Forderung des Bündnisses. „Das Land NRW muss Kitas als Bildungsorte ernst nehmen und jetzt handeln.“
Petra Löbach, Fachberaterin
„Wie viele Kinder sind wir?“, fragt die Leiterin Saadet Yaman. Ein Junge meldet sich und zählt auf Französisch. Ohne Hilfe kommt er bis „Treize, quatorze.“ Eine Erzieherin fragt: „Und welche Zahl ist das auf Deutsch?“ „15 oder 16“, sagt er. „14“, korrigiert die Erzieherin. „Jetzt will ich auf Englisch“, sagt ein Mädchen. Die anderen Kinder helfen, gemeinsam kommen sie bis „nineteen“ und wechseln dann für die letzten beiden Zahlen zu Deutsch. Ein Junge zählt danach noch auf Spanisch, ein anderer steuert Kroatisch bei, auch er kommt auf 21 Kinder.
Eine vom Deutschen Jugendinstitut und dem Robert-Koch-Institut durchgeführte Corona-Kita-Studie hatte 2022 auch festgestellt: In Kitas mit „wenigen Kindern aus sozial benachteiligten Familien besteht bei rund 20 Prozent ein pandemiebedingter Förderbedarf“. Bei einem höheren Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien lag der Bedarf bei 40 Prozent.
Der Bund hat über das Kita-Qualitätsgesetz die Länder 2023 und 2024 mit rund 4 Milliarden Euro unterstützt. Die Mittel sollten in die Qualität und Verbesserung der Teilhabe in der Kindertagesbetreuung fließen. Auch für 2025 und 2026 stellt der Bund den Ländern jeweils 2 Milliarden Euro zur Verfügung, etwa für die in die Verbesserung des Betreuungsschlüssels.
Die Ehrenfelder Fröbel-Kita hat wie viele Kitas ein „offenes Konzept“. Sie verzichten auf feste Gruppenräume und Kindergruppen. Die Kinder können sich frei bewegen, die Räume haben jeweils ein eigenes Thema oder eine Funktion – Bildungsbereiche, wie Löbach es fachlich ausdrückt – und sind entsprechend ausgestattet. Im Bauraum gibt es einen Legotisch, Rampen für Spielzeugautos, Baggerfahrzeuge und Klötze. Das Rollenspielzimmer ist mit Höhle, Kinderküche und Puppenspielsachen ausgestattet, im Leseraum stehen Bücher, Sitzkissen und kleine Sessel, und im Atelier liegen Zeichen- und Bastelmaterialien bereit.
Am Ende des Morgenkreises würden sich die Kinder jetzt frei in den Räumen bewegen. Doch weil heute weniger Erzieher*innen da sind, endet die Morgenrunde mit einem „Zug“, die Kinder stellen sich hintereinander auf, die Hände auf den Schultern des Kindes vor ihnen und der Zug zieht zum Bauzimmer, wo die ersten Kinder „aussteigen“ und dann weiter zum Atelier und dem Rollenspielzimmer.
Die Tür zum Turnzimmer mit Sprossenwand, Schaukelhaken und Matten ist geschlossen. Denn aktuell sind acht Kolleg*innen krank, von elf regulär eingeteilten Erzieher*innen, die von drei Azubis und einer Studentin ergänzt werden. Diejenigen, die da sind, können nicht alle Räume beaufsichtigen, außerdem muss die Kita die Öffnungszeiten reduzieren. Statt um halb fünf am Nachmittag sind die Eltern nun aufgefordert, die Kinder bereits zwei Stunden früher abzuholen. „Wir sind in der Notbetreuung“, sagt Saadet Yaman. „Eine schwere Entscheidung.“ Auch der Außenbereich mit Sandkiste, Bällen und Dreirädern ist noch nicht zugänglich, erst später wird eine der Erzieherinnen mit ein paar Kindern rausgehen. Eine andere Gruppe war schon frühmorgens in einer benachbarten Turnhalle, um die Lage etwas zu entzerren, aber auch, um den Kindern ein „Bewegungsangebot zu machen“. Insgesamt besuchen 56 Kinder die Kita.
Im Rollenspielraum fragt ein Junge, der hier Elias heißen soll, die Erzieherin, ob sie mit ihm an der Wickelkomode spielen kommt. Sie vertröstet ihn, zur selben Zeit läuft ein Junge durch den Raum, der sich einen Einkaufskorb aus Draht als Hut auf den Kopf gesetzt hat. „Ich bin mir nicht sicher, ob das so gut ist“, sagt die Erzieherin. Von der anderen Seite kommt ein Mädchen, das sich eine große Decke über den Kopf geworfen hat. „Ich bin ein Gespenst“, sagt sie. Sie zieht einen Jungen auf ihrer Decke zurück durch den Raum. „Vorsicht mit deinem Kopf“, warnt die Erzieherin den Jungen mit dem Drahtkorb. Um das Gespenstermädchen haben sich nun drei andere Kinder versammelt. Elias kommt dazu. „Wer möchte mit in den Urlaub fahren?“, ruft er. Mit einem Koffer läuft er durch den Raum, drei andere folgen ihm. Ich fahr auch noch mit“, sagt ein Junge und läuft zu Elias.
Saadet Yaman, Kita-Leiterin
„Zu Hause wird auf die Bedürfnisse von Kindern oft sofort eingegangen. Das ist in der Kita oftmals anders“, sagt die Erzieherin später. „Das ist Gemeinschaftslernen im Gruppengeschehen. Das Kind lernt dadurch: Ich werde gesehen, aber bin auch Teil der Gruppe.“ Dazu gehöre auch, warten zu lernen und ein Kind mal warten zu lassen. „Ich behalte es im Auge. Ich gucke, integriert es sich?“ Oft würden Kinder sich neu orientieren und einer Gruppe anschließen. „Wenn ich bemerke, dass es ein Kind braucht, komme ich auf ihn zurück, sobald die Gesamtsituation es zulässt“, sagt sie. „Wichtig ist dafür auch das Team, und dass wir uns über solche Situationen austauschen und sie reflektieren können.“
Warum das so wichtig ist, das erklärt wenig später Saadet Yaman, die Kitaleiterin. Sie ist 28 Jahre alt, ihre Ausbildung zur Erzieherin hatte sie bereits mit 20 abgeschlossen. Nach ihrem Anerkennungsjahr hat sie berufsbegleitend Management studiert und mit 25 Jahren eine Leitung übernommen. „Wenn wir andere Ressourcen hätten, wäre die Erzieherin auf den Wunsch des Kindes eingegangen“, sagt sie. „Als das Kind gemerkt hat, dass es mit seinem aktuellen Bedürfnis nicht durchkommt, hat es sich anderen angeschlossen, was ja auch eine Erfahrung ist und zur Entwicklung beiträgt.“ Entscheidend sei, dass die Erzieherin es sprachlich begleitet und transparent gemacht habe.
Sie selbst sieht ihre Aufgabe als Kitaleiterin wiederum darin, das genau so auch mit der Kollegin zusammen einzuordnen. „Das kann ja für die Kollegin zu einer großen Belastung werden, falls sie es als Versagen verbucht“, sagt Yaman. „Eine gute Führung federt ab.“ Doch dafür müsse sie eben viel am Kita-Alltag teilnehmen, um einen Überblick zu haben. „Die Politik unterschätzt das.“
„Als Kitaleitung bin ich eine Führungskraft“, bekräftigt Yaman. Es sei ein Problem, dass zu viele administrative Tätigkeiten verlangt würden. „Eigentlich sollte ich als Leiterin nicht diejenige sein, die ans Telefon geht“, findet sie. „Es wäre auch eine Entlastung, wenn wir eine Bürokraft einstellen könnten, die Verträge macht. Aktuell werden Pädagog*innen zwischen Büro und Führung zerrieben“, kritisiert auch Fachaufsicht Löbach.
Auch sonst wünscht sich Yaman weniger Bürokratie, derzeit müsse sie etwa Informationen über die Kinder in drei verschiedenen Systemen ablegen, „sinnvoll wäre, das zusammenzuführen“. Das Kinderbildungsgesetz sei teils sehr starr. „Warum habe ich kein Budget, das ich verwalten kann?“ Die Sprachförderung etwa, die würden derzeit Erzieher*innen machen, die sich über Fortbildungen qualifiziert hätten. „Es wäre sinnvoll, jemanden extra dafür einzustellen.“
Der Nachmittag bricht an, die ersten Eltern treffen ein, um ihre Kinder abzuholen. Auch Großeltern kommen. Eine Erzieherin ist mit fünf Jungen in den Hof gegangen. Eines der Kinder von drinnen kommt raus, ein kleinerer Junge, er muss auf die Toilette, doch die Erzieherin kann die Gruppe draußen nicht allein lassen, und von einer anderen Erzieherin möchte sich der Junge nicht begleiten lassen. Die Erzieherin schlägt noch eine andere Fachkraft vor, doch der Junge schüttelt den Kopf. Geduldig fragt sie weiter nach, sie begleitet gleichzeitig die größeren Jungen, die sich um einen Ball streiten. Während die Erzieherin die Kinder beim Spielen mit Ball und Bagger begleitet, signalisiert sie einer Kollegin drinnen, dass sie Unterstützung bräuchte. Die ist mit einem anderen Kind beschäftigt und sagt, dass sie nach dem Wickeln komme. Der Junge sagt weiterhin, dass er warten wolle.
„Wir versuchen, bestmöglich durch den Alltag zu begleiten“, sagt Leiterin Saadet Yaman. „Die Erzieher*innen machen einen Bildungsjob, trotz des Mangels, unter dem das ganze System leidet.“ Sie fordert: Frühkindliche Bildung braucht mehr Anerkennung. Und dazu komme die Pandemie: „Corona hat uns aus der Bahn geworfen, viele haben keine gerade Linie wiedergefunden“, sagt Yaman. Die Politik nehme nicht wahr, was das auch aktuell noch für die Arbeit in den Kitas bedeute. „Für die Erzieher*innen hat keiner geklatscht“, sagt sie. „Wir wünschen uns andere Kapazitäten, um die Kinder mit besonderen Bedarfen aufzufangen.“
„Wir begleiten die Kinder ein Stück auf ihrem Lebensweg, mit einem Blick darauf, dass sie mündig und sprachfähig werden, und dass sie Werte verinnerlichen“, sagt sie, als ein Beispiel nennt sie das Kinderparlament, zu dem sie sich einmal im Monat zusammenfinden und bei dem auch die Kleinsten schon mit abstimmen – mit einer Murmel, die sie in den entsprechenden Kasten legen. „Es beginnt mit einem Spiel am Tisch. Aber wir haben einen Bildungsauftrag wie die Schulen auch. Die Politik sollte uns auch so behandeln“, sagt Yaman. Sie sollte eigentlich wissen, dass „nun auch mehr Geld ins System“ müsse.
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