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Sprachwissenschaftler über German Angst„Die Angst vor Krieg lähmt uns“

Warum fürchten sich Deutsche vor Veränderung? Ulrich Hoinkes über Angstkultur, politische Manipulation und die Wahrnehmung der Klimakrise.

In ihrem Fall wurde die Angst produktiv: Jugendliche auf einer Fridays-for-Future-Demonstration in Berlin 2019 Foto: Stefan Boness
Anastasia Zejneli
Interview von Anastasia Zejneli

taz: Herr Hoinkes, Deutsche gelten angeblich als besonders furchtsam. Es gibt dafür sogar einen Begriff: German Angst. Haben wir die Angst erfunden?

Ulrich Hoinkes: Nein, wir haben die Angst nicht erfunden. Aber Ängste unterscheiden sich auf nationaler Ebene. Das hat mit den verschiedenen kulturellen Hintergründen zu tun. In Problemlagen gibt es unterschiedliche Hoffnungsträger und Tabuthemen. Dabei zeigt sich durchaus eine spezifisch deutsche Angst. Aber es gibt auch eine englische oder eine französische Angst, wenn Sie so wollen. Nur sind sie nicht so prominent geworden, weil die Deutschen ihre Form der Angst ein bisschen stärker in den Diskurs gebracht haben, auf verschiedenen Ebenen.

taz: Inwiefern?

Hoinkes:­ Wir haben einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Angst in der westlichen Welt geleistet. Etwa mit der Prägung des Existenzialismus durch den Philosophen Martin Heidegger. Im europäischen Existenzialismus sind spezifische Angstvorstellungen weitergetragen worden, und das ist eine weltanschauliche Perspektive, an der wir großen Anteil haben. Es gibt auch eine wirtschaftliche Schiene, in der sehr stark über Angst gesprochen wird.

So habe ich etwa das Problem, dass ich den Begriff „Anxiety Culture“, unter dem unser Forschungsprojekt läuft, schlecht ins Deutsche übersetzen kann. Der Begriff der „Angstkultur“ ist in Deutschland sehr früh mit einem angstbehafteten Verständnis von Unternehmenskultur belegt worden, in dem zu wenig Mut und Innovationsbereitschaft, statt dessen aber hierarchischer Druck und Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes vorherrschen. Die Deutschen haben unglaublich viel Angst vor Veränderung, und diese Angst lähmt sie.

Bild: Kareem Ward
Im Interview: Ulrich Hoinkes

Ulrich Hoinkes ist Professor für romanische Sprachwissenschaft an der Uni­ver­sität Kiel und Leiter des internatio­nalen Forschungsprojekts „Anxiety Culture“ in Kooperation mit der Columbia University in New York.

taz: Seit 2015 bauen Sie das Projekt „Anxiety Culture“ an der Universität Kiel auf. Was ist eine Ihrer zentralen Erkenntnisse?

Hoinkes: Unsere Beobachtungen, gerade bei jungen Menschen, zeigen, dass viele Entwicklungen in unserer Welt als gefahrvoll wahrgenommen werden. Allein im letzten Jahrzehnt haben sich größere Bedrohungen wie Terrorismus, Migration, Klimakrise, Pandemie und politische Instabilität aneinandergereiht. Zuletzt der Ukraine­krieg und die Entwicklungen in den USA. Das Problem: Wir haben nur eine begrenzte Aufmerksamkeit und können uns immer nur auf einen dieser Gefahrenbereiche konzentrieren. Doch die anderen Probleme gehen so nicht weg, es bleibt das Empfinden von ungelösten Polykrisen.

taz: Sie sagen, die heutige Angstkultur ist ein junges Phänomen. Liegt es auch daran, dass es mehr Gründe für Ängste gibt als früher?

Hoinkes: Die Ereignisse der vergangenen Jahre haben eine andere Qualität als früher. Die Komplexität der Welt hat zugenommen, die Probleme erscheinen de facto kaum lösbar und wir leiden stärker an Vertrauensverlust. Das schlägt insbesondere auf die junge Generation durch. Aber man muss auch sagen: Die Angst war immer schon Begleiter menschlicher Kultur und hat sie vorangebracht. Dass wir im Moment ängstlich sind, vielleicht sogar besonders stark, ist grundsätzlich gar nicht so schlecht.

Ich wehre mich zu sagen, dass Angst im öffentlichen Raum immer ein schlechter Ratgeber ist. Natürlich brauchen wir auch Mut und Zuversicht, aber woraus entwickelt man sie? Es ist eine scheinbare Paradoxie. Man entwickelt sie aus Angstszenarien und angemessenen Lösungsstrategien. Angst und Zuversicht sind quasi Dichotomien in dieser Situation. Gerade wenn wir die Überzeugung, es zu schaffen, aus dem Gefühl der Angst und Unsicherheit entwickeln, können wir uns wieder stark fühlen.

taz: Sie nennen in Ihrer Forschung die Klimaangst als Beispiel dafür, wie Ängste zu Veränderung führen können. Wie kann man sich das vorstellen?

Hoinkes: Greta Thunberg sagte: „I want you to panic“, um proaktives Handeln zu motivieren, statt passiv auf die ökologischen Folgen der Erderwärmung zu warten. Angst kann einen positiven, mobilisierenden Effekt haben.

taz: Die Klimabewegung und ihre Ziele sind aber momentan eher in den Hintergrund geraten. Reicht Angst allein da nicht aus?

Hoinkes: Vor die Klimaangst schieben sich derzeit andere Ängste. Wenn wir nicht aufpassen, ist das wie auf einem Jahrmarkt der Gefühle. Viele Politiker sind daran interessiert, zu gegebener Zeit bestimmte Ängste besonders zu schüren. Man kann das den Politikern nicht einmal unbedingt vorwerfen, weil sie eben spezielle Interessen vertreten und umsetzen wollen. Doch diese Manipulation ist für unsere gesellschaftliche Entwicklung meist kontraproduktiv.

taz: Wie sollten Politiker stattdessen mit Ängsten in der Bevölkerung umgehen?

Hoinkes: Es ist eine der größten Aufgaben, die Angstkultur als westliche Zivilisationserscheinung anzuerkennen. Die Bedrohungen besonnen wahrzunehmen, aber nicht daran zu verzweifeln. Es bedeutet, dass wir, um aus der Ohnmacht und Hilflosigkeit herauszukommen, zum Teil radikale Veränderungen brauchen. Diese Radikalität, die in Deutschland leider oft negativ bewertet wird, müssen wir fördern, um in diesen schwierigen Zeiten etwas zu verändern. Da setze ich besonders auf die jüngere Generation und auf die Frauen, die meiner Meinung nach oft eher dazu bereit sind, aus berechtigter Sorge heraus umzudenken.

taz: In Deutschland erleben wir nach langer Zeit der Demilitarisierung nun ein Umdenken in der Politik. Auch die Debatte über eine Wehrpflicht wird wieder geführt. Das versetzt viele junge Menschen in Sorge. Wie soll man mit der Angst vor Krieg umgehen?

Hoinkes: Für mich ist die Klimaangst, unter der besonders jüngere Menschen leiden, eine sinnvolle und reale Angst, die Angst vor einem Krieg in Deutschland momentan dagegen nicht. Aus den Sorgen über den Klimawandel kann eine Motivation für Veränderung entstehen. Die Angst vor Krieg – und sie ist in unserer westlichen Welt automatisch eine Angst vor dem Atomkrieg – lähmt uns dagegen eher, denn wir können die tatsächlich gegebene Bedrohung kaum adäquat einschätzen. Wir müssen uns im Rahmen der „Anxiety Culture“ fragen, ob es wirklich um eine Angst vor dem nächsten Krieg geht oder eher um die Sorge vor den Auswirkungen einer neu zu definierenden globalen Weltordnung, in der militärische Abschreckung leider wieder zu einem größeren Thema wird.

Es ist wichtig, sich mit Fragen der Verteidigung zu beschäftigen. Wenn wir die derzeitige Lage ernst nehmen – und das sollten wir tun –, heißt es noch lange nicht, dass wir auch neue Ängste entwickeln müssen. Wir diskutieren bereits über unsere Sicherheit, das ist ein guter und wichtiger Schritt. Wesentliche Entscheidungen über mehr Militärausgaben oder eine Stärkung des Heeres sollten aber in diesem Prozess aus Besonnenheit, nicht aus Panik und mangelnder Informiertheit heraus getroffen werden.

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