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Sprint gegen sich selbst

Freiheit nach Regeln: Der Choreograf Emanuel Gat brachte seine „Freedom Sonata“ im Haus der Berliner Festspiele auf die Bühne

Gruppendynamik in „Freedom Sonata“ Foto: Fabian Schellhorn

Von Yi Ling Pan

Von jetzt auf gleich beginnt der Tänzer Abel Rojo Pupo von der linken Wand der Bühne zur rechten zu sprinten, als stünde sein Leben auf dem Spiel. Sein Gesicht ist zusammengezogen, immer schneller klatscht er die Wände ab zu den fordernden Beats von Kanye Wests „Real Friends“. Hinter ihm feuern ihn die anderen zehn Tän­ze­r:in­nen lauthals an. Man versteht nicht, was sein Ziel ist. Aber das spielt keine Rolle. Es reicht, zu sehen, dass der Sprint in diesem Moment sein Lebensprojekt ist. Zögerlich zuerst fiebert auch das Publikum immer lauter mit: Schafft er, was auch immer er schaffen will?

Die Freiheit des Individuums ist ein Leitmotiv in den Werken des israelischen Choreografen Emanuel Gat. Sein neuestes Stück, das seine deutsche Premiere im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Reflexe und Reflexionen“ in den Berliner Festspielen feiert, demonstriert das schon im Titel: „Freedom Sonata“. Am deutlichsten wird das in der Szene, in der je­de:r Tän­ze­r:in einzeln nach vorne stürmt und sich einer intuitiven Bewegung hingibt, einem Schrei, einer Frage ans Publikum oder einem Sprint gegen sich selbst. Neben individuellen Entscheidungen ist es vor allem die Verhandlung im Kollektiv, die Gat interessiert. Als Choreograf möchte er keine Bewegungen vorgeben, sondern nur den Rahmen, die Tän­ze­r:in­nen ihre Freiheit verhandeln.

In „Freedom Sonata“ stellen sich elf Tän­ze­r:in­nen verschiedener Stilistiken dieser Aufgabe selbstbewusst und in hohem Tempo. In Dreier- bis Fünferkonstellationen stürmen sie zu epischen Gospelklängen auf die blass benebelte Bühne. Sie lassen ihre Körper kraftvoll zu komplexen Gebilden in- und auseinanderfließen, immer im Dialog mit Kanye Wests Album „The Life of Pablo“ aus 2016, einem musikalisches Potpourri aus Rap, Gospel, R&B und Elektro. Dabei tanzen sie nicht immer mit der Musik. Mal stehen sie mitten im Beat still oder lassen sich auf folkloristische Tanzeinlagen ein, die nicht so recht zu Ye passen wollen.

Ganz anders wirken die Bewegungen auf den weniger selbstbejahenden Klavierklängen Mitsuko Uchidas. Der von ihr gespielte zweite Satz aus Ludwig van Beethovens Sonate Nr. 32 ist ein Kontrastprogramm von leider kurzer Dauer.

Dass Ye für antisemitische und rassistische Hetze bekannt ist, klammert Gat aus seiner musikalischen Entscheidung aus. Auch hier bleibt Freiheit das Leitprinzip. „Die Kunst gehört nicht dem Künstler“, sagt er in einem Diskussionspanel über Kunstfreiheit. Aber wenn im Track „Low Lights“ eine Frauenstimme „It feels so good to be free“ schwärmt, fragt man sich doch, wie viel Freiheit Künstler wie Ye sich selbst zugestehen.

Dabei versteht Gat Freiheit nicht als grenzenlos, sondern als Übernahme von Verantwortung. Auch der Tanz ist keine Anarchie. Bestimmte Spielregeln sind vorgegeben, wie bei der klassischen Sonatenform: Exposition, Durchführung, Reprise. Oder das wiederkehrende Motiv, in dem die Tän­ze­r:in­nen weiße Tanzböden mit Besen, Klebeband und vollem Körpereinsatz ausrollen und festkleben. Innerhalb dieser Struktur wird viel den Tän­ze­r:in­nen überlassen. Ununterbrochen müssen sie miteinander verhandeln, wenn sie sich gegenseitig hochheben, Bewegungen voneinander aufnehmen, wieder ablegen. Ihre Freiheit verpflichtet sie zur Verantwortung, dass das Spiel weitergeht.

Gespielt wird mit wilder Assoziation. Die Tänzerin Rindra Rasoaveloson steht scheinbar unbeteiligt in Distanz zur rennenden Meute. Aber mit flatterndem Kleid, leichten Handgesten und im weißlichen Nebel steuert sie die anderen mit göttlichen Kräften. Sakral und zugleich primitiv mutet der Zeitlupengang an, in dem sich fünf Tän­ze­r:in­nen vor gleißendem Licht in surrealen Posen fortbewegen. Ist es Suche oder Feier? Aber schon ist die Formation aufgelöst und es folgt die nächste. Daraus wird auch ein Spiel der Reizüberflutung. Die Musik bricht abrupt ab, warme und kalte Beleuchtung wechseln sich ab, und die Kostüme beweisen, wie vielseitig eine Farbe sein kann. Weiß, dann Schwarz, als enges Hemd, Sportbra, Boxershorts.

Nach einer guten Stunde ist das Auge derart an die stetig wechselnden Körpergebilde und Experimente gewöhnt, dass es sich an der überschäumenden Freiheit zu erschöpfen droht. Unerwartet erfrischend wirken dahingegen die kurzen, durchchoreografierten Gruppentänze in braver Kreisformation.

Letztlich sind es die fein dosierten Emotionen auf der Bühne, die die Aufmerksamkeit immer wieder zurückgewinnen. Die zweifelnden Blicke untereinander oder das Nachdenken allein in der Ecke. Dabei weiß man nie ganz, was davon echt ist, welche Geschichten sich dahinter verbergen.

Den Dynamiken auf der Bühne haftet immer ein Rest Unverständlichkeit an. Diese versetzt auch in Distanz zu menschlichen Verhaltensweisen und erinnert daran, dass keine davon natürlich gegeben ist. Darin liegt auch eine Forderung ans Publikum. Akzeptiert man die Eigenlogiken der Tänzer:innen, auch wenn man sie kaum versteht? Die Einladung steht. Und wenn eine Tänzerin einfach so auflacht, während sie über die Bühne rennt, ist die Einladung einfach anzunehmen. Man freut sich mit.

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