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„Die Ballade vom freien Weg“

Von Artem Tschech

Im Dezember 2021 fuhr ich in eine Ferienhütte, um meinen neuen Roman zu beenden. Ich arbeitete bereits neun Monate an dem Text, der langsam und unaufgeregt aus mir wuchs, so wie Grasbüschel durch den Asphalt: „Die Ballade vom freien Weg“ erzählt die Geschichte eines ukrainischen Einwanderers zur Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs. Es sollte eine Story über Bewegung und Freiheit sein, über einen Menschen, der stärker ist als seine Vergangenheit. Ein wichtiges Buch, und ich kam langsam zum Finale.

Bis zum großen Angriffskrieg Russlands waren es da noch weniger als drei Monate. Während der einsamen Tage im Ferienhaus dachte ich häufig daran, dass ich wieder die Militär­uniform anziehen und in den Kampf ziehen würde. Wie sehr ich diesen Gedanken verabscheute.

Der Krieg rückte ohne Maskerade näher. Und alle meine Ahnungen schienen mir durchaus realistisch. Allzu wirklich. In Erwartung des Kriegs und des großen Leids hatte ich nicht mehr die Kraft und die Moral, den Roman zu beenden.

Dann begann der Krieg. Und die erste Nacht zog herauf. Während meine Frau und mein Sohn im Flur saßen und versuchten, sich trotz des unerträglichen Geheuls der Sirenen und des Getöses der Explosionen zu beruhigen, ja, sogar ein wenig zu schlafen, akzeptierte ich schließlich die Möglichkeit, im Krieg zu sterben, als eine quasi sichere Sache, als unabwendbare Tatsache. Und diese Akzeptanz beruhigte mich, machte mich mutiger, stärker und ausgeglichener.

Mein Roman, den ich so lange ausgetragen hatte, verwandelte sich augenblicklich in einen Schatten. Er flackerte noch hier und da in meinen Gedanken, versuchte sich hin und wieder zu realisieren, doch in der neuen Realität gab es keinen Platz mehr für ihn. Ich glaubte noch an ihn, aber dieser Glaube wurde schwach. Ich schickte das Manuskript als E-Mail-Anhang an meine Frau und meinen Verleger. Für alle Fälle, um ihn zu retten. Auch Schriftsteller sterben schließlich – vor allem als Soldaten. Ich hoffte, auch in der Armee weiterschreiben zu können. Aber die Realität des Kriegs lässt keinen Raum für Fiktion. Der Krieg ist zu laut, er übertönt all deine inneren Stimmen, bis auf die eine, die dir zuruft: Überleb!

Wie soll man auch schreiben, wenn einen die Anspannung fest im Griff hat, wenn man kaum mehr Luft schnappen kann und das Gefühl überwiegt, dass in einem einzigen Moment der ganzen Welt das Licht abgedreht wurde?

Dann kam der schwarze Graben des Fleischwolfs Bachmut. Schwarz und grau wie ein Grab. Der Wind wehte den Rauch der sengenden Stadt zu uns, und die Körper unserer Soldaten lagen im hohen Mai-Gras, und die russische Armee goss unaufhörlich Feuer und Eisen über uns aus.

Ich dachte in diesem Graben oft an den Roman. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ihn im Winter nicht zu Ende geschrieben hatte. Was möglich gewesen wäre. Die Wahrscheinlichkeit, ihn unvollendet zurückzulassen, peinigte mich, und ich hasste mich zunehmend für diese Faulheit und Inkonsequenz. „Aber was denn für einen Roman?“, dachte ich dann wieder. Das Einzige, was ich jetzt fertigbringen musste, war: überleben!“ Und ich überlebte.

Mein unvollendeter Roman lebte lange eineinhalb Jahre mit mir, er wartete, bis der Krieg enden wird, bis ich zu ihm und zu meinem früheren Ich zurückkehren würde. Doch würde dieses frühere Ich überhaupt imstande sein, über einen „freien Weg“ zu schreiben mit dem Wissen, wie leicht dieser verschüttgehen kann. Ich war nicht überzeugt.

Später dann, als ich Urlaub bekam und wieder in die Ferienhütte fuhr, konnte ich den großen Roman über den damaligen Krieg mit den Erfahrungen unseres Krieges beenden. Ich schrieb leicht und schnell, als hätte es diese schrecklich lange Pause nicht gegeben. Am Ende sind alle Kriege gleich, denn sie bringen Tod, Schmerz und Trauer auf die gleiche Weise. Ich schrieb auf, was ich gesehen hatte, ich beutete ganz ungeniert meine Erfahrungen aus. Dieser Krieg nahm mir das Wichtigste: die Zeit und die Möglichkeit zu arbeiten. Dafür hasse ich ihn am meisten.

Aus dem Ukrainischen von ­Alexander Kratochvil

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