: „Was nützt den Menschen, was zaubert das Gute aus uns raus?“
Social-Media-Plattformen haben einen schlechten Ruf. Ginge es nicht auch besser? Und wenn ja, wie? Die Digitalexpertin Leena Simon hat Antworten
Interview Svenja Bergt
taz: Frau Simon, mit X geht es nach der Übernahme durch Musk immer weiter abwärts, die Meta-Plattformen werden Faktenchecks und Moderationen stark einschränken, zunächst in den USA. Ist Social Media noch zu retten?
Leena Simon: Wenn man mit Social Media das meint, was wir alle kennen, nämlich dass private Milliardäre und Tech-Bros unsere Kommunikation organisieren und das nicht mit der Frage verbinden, wie Kommunikation gut für alle und für die Demokratie sein kann, dann: nein. Das ist nicht zu retten. Es war von Anfang an ein schlechtes System, nur darauf ausgelegt, Profit zu machen. Und nun trägt es auch noch dazu bei, unsere Demokratie zu zerlegen.
taz: Die Krise also als Chance für eine gute Disruption?
Simon:Na ja, eine bessere Chance wäre es gewesen, wenn wir das als Gesellschaft schon vor 15 Jahren hätten kommen sehen – und politisch gegengehalten hätten. Dann wären uns viele der heutigen Probleme erspart geblieben. Aktuell wäre es tatsächlich eine Chance, wenn eine kritische Masse von Menschen begreift, dass es so nicht weitergeht mit Social Media. Aber das sehe ich noch nicht. Im Gegenteil: Ich sehe, dass sehr viele Leute immer noch bei X sind und sagen, wir können doch diesen Diskursraum nicht den Rechten überlassen.
taz: Ist das denn falsch?
Simon: Ja.
taz: Warum?
Simon:Weil es nicht möglich ist, dagegenzuhalten. Wer etwas anderes glaubt, hat die Architektur der Plattform nicht verstanden. Es hat nicht jede Nachricht die gleichen Chancen, angezeigt zu werden. Und wenn ich als Person, die etwas dagegenhalten will, für mein Dagegenhalten nur ein Tausendstel der Reichweite bekomme wie Elon Musk für seinen AfD-Wahlaufruf, dann verpuffen meine Inhalte. Ich stehe da auf verlorenem Posten. Und die einzige Möglichkeit, die ich habe, ist, zu sagen: Ich verleihe diesem Medium nicht noch Relevanz damit, dass ich mich dort aufhalte.
taz: Was ist mit dem Blasenargument? Verschärft das Verlassen der problematischen Plattformen nicht das Problem, dass verschiedene politische und gesellschaftliche Gruppen nur noch aneinander vorbeikommunizieren?
Simon: Die Blasen sind gar nicht das Entscheidende. Die gab es auch früher schon, als manche Menschen eben die konservative Zeitung gelesen haben und andere die linke. Und angesichts der Nachrichtenflut heutzutage ist es nur verständlich, dass wir nicht alles rezipieren können, was da draußen los ist. Nein, das Problem ist, dass wir die Gestaltung und Auswahl unserer Blasen den großen Tech-Firmen und Tech-Milliardären überlassen. Die schubsen uns in Blasen, in die wir gar nicht reinwollten. Sie wollen uns Nutzer:innen möglichst lange auf den Plattformen halten, damit sie mit uns Geld verdienen können.
taz: Wozu führt das?
Simon: Menschen bleiben möglichst lange auf einer Plattform, wenn sie polarisierende Inhalte gezeigt kriegen. Also: Hass, Hetze, Gewalt. Na gut, abgesehen von den paar Katzenvideos und lustigen Memes, denn Humor funktioniert immerhin auch noch ein bisschen. Aber Hass sorgt für mehr Aufmerksamkeit. Da dürfen wir uns also nicht wundern, dass die Gesellschaft immer weiter verroht und hasst und sich polarisiert.
taz: Das heißt, wenn wir Hass und Hetze und die ganzen anderen problematischen Aspekte der Plattform abschaffen wollen, müssen wir gleich den Kapitalismus abschaffen.
Simon: Nein, notwendig ist das nicht. Es reicht fürs Erste, wenn wir dafür sorgen, dass unsere Kommunikation nicht mehr nach kapitalistischen Gesichtspunkten gestaltet wird, sondern nach der Frage: Was nützt den Menschen, was zaubert das Gute aus uns raus? Momentan sind die Plattformen ganz stark so gestaltet, dass sie das Schlechteste aus uns herauskitzeln. Und hier brauchen wir ein Umdenken. Wir wollen, wir müssen das Gute aktivieren. Wir sehen gerade, wie viele Menschen auf die Straße gehen – doch das verhallt. Und das liegt nicht daran, dass diese Menschen nicht mit genug Energie unterwegs wären. Das liegt daran, dass sie ein Holzschwert in der Hand haben und gegen einen Feind kämpfen, der mit modernster Waffentechnologie kämpft. Wir müssen endlich kapieren, dass das so nicht funktionieren kann.
taz: Wie kann es denn funktionieren?
Simon: Zunächst mal müssen wir uns unserer Verantwortung füreinander und für unsere Kommunikation bewusst werden. Das ist der Schlüssel. Und es ist ja nicht so, als gäbe es keine Alternativen. Mit dem Fediverse gibt es eine gute, offene Alternative zu den kommerziellen Plattformen von X bis Instagram. Und dort ist, entgegen mancher Gerüchte, eine Menge los und die Diskussionskultur angenehm. Natürlich gibt es auch dort Häme oder destruktive Diskussionen. Aber die werden nicht noch algorithmisch verstärkt. Und das macht, finde ich, einen erheblichen Unterschied.
taz: Erklären Sie bitte kurz das Fediverse für alle, die noch nichts davon gehört haben.
Simon: Das ist ein nichtkommerzieller Verbund von sozialen Netzwerken. Man kann dort, wie man das von X, Facebook oder Instagram kennt, mit anderen Menschen in Kontakt treten, sich austauschen, sich folgen. Auf Mastodon posten die Menschen Text, ähnlich wie bei X. Auf Pixelfed Fotos, wie auf Instagram. Der Unterschied ist: Die Plattformen werden von ganz vielen unterschiedlichen Menschen betrieben und ich kann mir aussuchen, wo ich mich am wohlsten fühle. Es gibt keine Werbung und niemand trackt einen. Und die Netzwerke sind miteinander verbunden. Ich kann also zum Beispiel Nachrichten von Mastodon zu jemandem bei Pixelfed schicken.
taz: Das Fediverse ist aber am Anfang nicht sehr niedrigschwellig. Man muss schon ein bisschen mehr machen, als Name und E-Mail-Adresse anzugeben. Man muss sich erst mal mit ein paar technischen Details befassen und auch die Begrüßung ist nicht immer herzlich. Wenn viele neue Leute kommen, reagieren Alteingesessene mitunter ungehalten, weil Neulinge die Konventionen nicht kennen.
Simon: Ja, da lässt sich sicher noch einiges verbessern. Das Schöne ist: Anders als bei den kommerziellen Anbietern können wir Missstände im Fediverse gemeinschaftlich direkt angehen. Aber ganz ehrlich: Viele Menschen machen es sich auch etwas bequem. Das erinnert mich an das Ende der 90er Jahre. Da waren manche Leute überfordert, wie das jetzt funktioniert mit der E-Mail. Wie, da braucht man einen Account? Und dann auch noch ein E-Mail-Programm? Mann, ist das kompliziert! Und dann haben es doch alle geschafft. Man muss sich halt mal darauf einlassen und nicht die ganze Zeit denken: Das ist zu kompliziert, das schaff ich eh nicht. Meine Erfahrung ist: In dem Moment, wo man sich darauf einlässt und mal ein halbes Stündchen damit befasst, kriegt man die meisten Sachen hin. Ich empfehle deshalb, sich stattdessen zu sagen: „Sieh da! Eine super Gelegenheit, meine digitale Mündigkeit zu trainieren.“
taz: Wenn Sie sagen, die Nutzer:innen sollen wechseln – liegt dann am Ende die Verantwortung doch wieder beim Individuum?
Simon: Nein, das will ich damit nicht sagen. Das wäre auch unfair: Denn die Gesellschaft lebt ja vor, dass es super normal ist, bei diesen großen kommerziellen Plattformen mitzumachen. Sogar Behörden sind hier unterwegs. Nein, digitale Mündigkeit ist immer ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren: Individuum, Politik und Gesellschaft.
taz: Was wären denn politische Vorgaben, die richtig was bringen würden?
Simon: Ganz wichtig als Erstes: offene Schnittstellen. Die würden dazu führen, dass ich zwischen den Plattformen kommunizieren kann – zum Beispiel zwischen Pixelfed und Instagram. Bei Mails kann ich ja auch von Posteo zu Gmail Nachrichten schicken. Mit offenen Schnittstellen würde der Zwang wegfallen, die eigenen Daten einem bestimmten Anbieter zu geben. Als Zweites brauchen wir unbedingt ein Recht darauf, die eigenen Kontakte und Inhalte zu portieren, also mitzunehmen. Damit könnte ich von X zu einer Alternative wechseln, ohne meine Kontakte zu verlieren, wie das jetzt der Fall ist. Momentan stirbt man dabei einen kleinen sozialen Tod, das macht das Wechseln noch schwerer.
taz: Was ist mit den Algorithmen?
Simon: Da brauchen wir Transparenz. Nutzer:innen müssen wissen, warum ihnen welcher Inhalt angezeigt wird, und sie müssen Einfluss darauf nehmen können. Ah, und dann noch eine vierte Sache: Öffentlich finanzierte Einrichtungen – Behörden, aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk –, die auf Social Media präsent sind, müssten die Vorgabe haben, mindestens eine Plattform zu bespielen, die nicht nach den kommerziellen Regeln der Gewinn- und Aufmerksamkeitsmaximierung tanzt.
taz: Viele Medien sind doch schon auf alternativen Plattformen wie Bluesky oder Mastodon.
Simon: Ja, aber in ihrer Sendung blenden sie immer noch „Diskutieren Sie weiter mit uns auf X“ ein. Wenn stattdessen zum Beispiel die „heute-show“auf Mastodon verweisen würde – das wäre ein Riesenunterschied für die öffentliche Aufmerksamkeit.
taz: Würde das denn reichen, um den Netzwerkeffekt anzustoßen? Denn der ist es, der die großen Plattformen noch größer macht: Alle gehen da hin, wo alle hingehen, weil da alle sind.
Simon: Ich denke, in der Kombination würde das reichen, ja. Denn wenn ich alle von überall aus erreichen kann, wirkt ja der Netzwerkeffekt gar nicht mehr. Aber zu Bluesky möchte ich wirklich nicht raten.
taz: Das ist die Plattform, die Twitter-Gründer Jack Dorsey groß gemacht hat. Dorthin wechseln gerade viele Nutzer:innen, die von X weg wollen. Was spricht dagegen?
Simon: Im Moment mag es bei Bluesky kuschelig sein und nett. Aber es ist wieder eine Plattform, die von Investoren mit Gewinninteressen getragen wird. Und wer sagt, dass sie nicht in zwei Monaten oder zwei Jahren verkauft wird, so wie es auch mit Twitter passiert ist? Oder auf anderen Wegen Geld reinkommen soll, mit Werbung auf der Plattform oder mit den Daten der Nutzer:innen?
taz: Immerhin hat Bluesky auch eine Schnittstelle zu Mastodon.
Simon:Das ist richtig, das ist ein kleiner Vorteil. Und es stimmt, aktuell zeichnen sich dort auch keine Gefahren für die Demokratie ab. Aber ich gehe davon aus, dass wir irgendwann die gleichen Probleme haben werden wie auf den anderen kommerziellen Plattformen. Denn der Grundfehler ist auch bei Bluesky eingebaut: Der Besitzer entscheidet, wo es langgeht, nicht die User:innen.
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taz: Ist es denn zwangsläufig so, dass eine kommerzielle Plattform, die klein und nett angefangen hat, mit dem Wachstum auch problematisch wird?
Simon: Kommerzielle Anbieter wollen irgendwann Gewinn machen. Und der Weg, persönliche Daten und Aufmerksamkeit zu verkaufen, ist derzeit der gewinnträchtigste.
taz: Social-Media-Plattformen sind auch schlicht eine Einkommensquelle für manche Menschen, die über gesponserte Inhalte oder Werbelinks Geld verdienen. Die kommen um die kommerziellen Plattformen nicht herum.
Simon: Das stimmt, im Fediverse ist das nicht gerne gesehen. Hier gibt es sogar manchmal Kritik, wenn Autor:innen für ihre Bücher werben. Aber es gibt auch viele, die die Haltung vertreten, dass gegen eine ehrliche Form der Monetarisierung nichts einzuwenden ist, dass sie sogar notwendig ist, weil ja zum Beispiel nicht alle Server ehrenamtlich betrieben werden können.
taz: Auf den großen kommerziellen Plattformen werben Influencer:innen für Produkte von Unternehmen.
Simon:Hinter diesem ganzen System von Influencer:innen steckt ja wieder die Frage: Wie schaffe ich mit meinem Inhalt möglichst viel Reichweite, damit ich möglichst viel Geld verdiene? Damit entstehen wieder in der Tendenz polarisierende Inhalte. Das System der Influencer:innen ist damit Teil des Problems.
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