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Das menschliche Steinzeithirn

Digitalen Sünden widmet sich eine neue Veranstaltungsreihe von Neuköllner Oper und Museum für Kommunikation. In der ersten Ausgabe ging es um Narzissmus

Von Katja Kollmann

Der Engel der Demut ist im Museum für Kommunikation gelandet. Luzia Labouriau kniet mit ihrer Violine auf dem Steinboden im Lichthof des Museums. Sie legt den Geigenbogen an und schickt Tonkombinationen, die einst Johann Sebastian Bach zu Ehren eines von ihm gepriesenen Gottes niederschrieb, hinauf zur grazilen jungen Frau, die Flügel hat. Zwischen Labouriau und der Skulptur entsteht eine temporäre Symbiose. Bernhard Glocksin führt die Musikerin als Engel der Demut ein, als Gegenkonzept zur selbstreferenziellen Aufmerksamkeitsökonomie des 21. Jahrhunderts.

Der künstlerische Leiter der Neuköllner Oper hat vor fünf Jahren zusammen mit Sa­brina Rosetto die Reihe Wunderkammer konzipiert, die sich an wechselnden Orten Berlins an der produktiv-kreativen Verknüpfung von Wissenschaft, Musik und Philosophie versucht hat. Eine Station war damals das Museum für Kommunikation. Das neue Format „Digital Sins“ macht exklusiv an der Leipziger Straße Station, geht es doch um unsere komplexe Wechselbeziehung zur digitalen Welt. Man denkt groß, im Grunde umfassend und vor allem barock. So widmen Glocksin und Rosetto die vier Abende, die sich über das ganze Jahr verteilen, den menschlichen Lastern. Von Narzissmus über Gier bis Lust & Völlerei.

Im Treppenhaus schält sich Sigmund Freud aus einem Sessel, der hinter einer weißen Riesenmaske verborgen ist. In der ersten Digital-Sins-Folge geht es um Narzissmus und da ist der Begründer der Psychoanalyse gefragt. Im Laufe des Abends wird der vermeidliche Sigmund Freud von den Cyber-Partisanen als Spion enttarnt. Nach einer wilden Jagd durchs Haus läuft er (gespielt von Lisa Mader) zu den Partisanen über. Kamil Ahmad und seine Partisanen-Crew sehen aus wie Che-Guevara-Wiedergänger. Sie teilen ihre Erfahrung, nachdem sie sich einen Monat aus der digitalen Welt ausgeklinkt haben. Und sie haben viele Fragen an Julia Baum und Zsuzsa Komaromy vom Institut für Psychologie an der Humboldt-Universität. Generiert wurden Fragen und Internet-Abstinenzerfahrungen im Vorfeld mit Neugierigen, die sich bei der Neuköllner Oper melden konnten. Und jetzt sitzt man in der Wechselausstellung, die dem Thema „Nachrichten“ auf den Grund geht, und es geht darum, herausfinden, woher die Faszination für Verschwörungstheorien kommt. Eine Erklärung ist, dass beim Menschen immer noch automatisch der „Steinzeitreflex“ aktiviert werde, der Gefahr wittert und so dafür empfänglich macht. Catharina Katzer vom Institut für Cyberpsychologie in Köln geht noch weiter und spricht vom menschlichen Steinzeithirn, das dem digitalen Fortschritt um Meilen hinterherhinke.

Politikwissenschaftler Simon Hegelich bemerkt, dass die Akklamation, die reine Zustimmung zu einer politischen Führungspersönlichkeit, auf dem Vormarsch sei. Bernhard Glocksin moderiert den Abend, das Überthema Narzissmus – potenziert durch den digitalen Verstärker nicht aus den Augen verlierend. Die individuellen Gedankenspaziergänge, die beim kollektiven Flanieren durchs Museum entstehen, gehen in viele neue Richtungen. Und am Schluss landet man wieder bei Luiza Labouriau, dem Engel der Demut. Noch einmal spielt sie Bach und eine Bach-Variation des belgischen Tonsetzers Eugène Ysaÿe, der in das Werk des Barock-Komponisten Löcher der Stille einfügt. Dann tönt aus Lautsprechern sanft dröhnendes Gewimmer, gehandelt als Johann-Sebastian-Bach-Essenz, wenn man alle Bach’schen Töne zusammenzieht. Oben hält das Wesen noch immer die Fackel hoch.

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