: Der Kampf gegen die Ödnis
Am Ostberliner Stadtrand stehen etliche Shoppingcenter leer. Die Klötze wieder abzureißen, sei Blödsinn, findet die Linke. Stattdessen sei hier der ideale Platz für sogenannte Sorgezentren

Von Jonas Wahmkow
Das Marktplatz-Center in Hellersdorf hat seine besten Jahre hinter sich. Im Erdgeschoss des architektonisch einfallslosen Gebäudekomplexes hält noch eine Apotheke die Stellung. Ansonsten herrscht gähnende Leere in der einstigen Shoppingmall am ausladenden Alice-Salomon-Platz. Auch der Platz selbst ist an diesem sonnigen Samstagmittag Ende Februar an Trostlosigkeit kaum zu überbieten. Schlendernde Passant:innen? Fehlanzeige. Das Szenario der verwaisten Innenstädte, das im Zuge der Krise des Einzelhandels beschworen wird: Am Alice-Salomon-Platz scheint er schon Realität.
Umso mehr fällt dann die Menschentraube auf, die sich in kurzer Zeit vor dem Marktplatz-Center versammelt. Rund 100 Personen sind der Einladung der Linken-Politikerin Katalin Gennburg zu einer „Stadtrandwanderung zu den Grabstätten des Ausverkaufs“ gefolgt. „Beim Ausverkauf der Stadt denken alle immer an Berlin-Mitte. Aber auch der Stadtrand war betroffen“, sagt Gennburg. Die Stadtforscherin sitzt bislang für die Linke im Abgeordnetenhaus, demnächst wechselt sie in den Bundestag.
Das Sterben der Innenstädte, das wird in Hellersdorf deutlich, ist vor allem ein Symptom profitgeleiteter Stadtentwicklungspolitik. In den 80ern als sozialistische Großsiedlung von einer Hand geplant und hochgezogen, wurde Hellersdorf nach der Wende mehr und mehr den Kräften des Marktes überlassen. Der Senat ließ als Konsequenz aus dem Rückgang der Bevölkerungszahl leer stehende Kitas und Jugendklubs abreißen. Auch die Ostkaufhallen verschwanden nach und nach. Stattdessen wurden neue Einkaufszentren gebaut – die heute leer stehen. Statt nun auch diese Malls wieder abzureißen, fordert die Linke, sie umzunutzen. Kitas, Ärzt:innen, Restaurants, kulturelle Angebote – all das fehlt in den Großwohnsiedlungen am Ostberliner Stadtrand, all das könnte in die ungenutzten Shoppingklötze einziehen.
Die aus 45.000 Wohnungen bestehende Großsiedlung Hellersdorf gilt als Musterbeispiel sozialistischer Stadtplanung. Zwischen den sechsgeschossigen standardisierten Plattenbauriegeln ließen die Architekt:innen viel Platz für Grünflächen und soziale Infrastruktur. Kaufhallen, Kitas und Jugendklubs waren fußläufig erreichbar. Den krönenden Abschluss sollte ein großes Stadtteilzentrum mit Kulturzentrum, Rathaus, Bibliothek und Schwimmbad bilden, genau dort, wo heute auch das öde Marktplatz-Center steht.
Bevor die Planungen umgesetzt werden konnten, brach freilich die DDR zusammen. Was blieb, war eine Großbaustelle. Nun oblag es dem wiedervereinigten Berlin, die sozialistische Musterstadt mit dem jetzt „Helle Mitte“ genannten Zentrum zu vollenden.
Die „Helle Mitte“ sei eine einmalige Chance gewesen, findet Uwe Klett. „So eine riesige Fläche in der Stadt zu haben und ein Zentrum zu designen, diese Situation wird es nie wieder in Berlin geben“, sagt Klett. Zwischen 1995 und 2006 war er für den Linkspartei-Vorgänger PDS zunächst Bürgermeister von Hellersdorf, dann vom fusionierten Großbezirk Marzahn-Hellersdorf und hat die Entwicklungen damals live miterlebt.
Dazu gehört auch, dass im Chaos der Nachwendejahre die Pläne gleich mehrmals über den Haufen geworfen wurden. 1993 übergab Berlin die Entwicklung des Areals dem Konsortium Mega AG. Die kulturellen Angebote wie das geplante Kleinkunstzentrum und das Schwimmbad fielen rasch dem Sparzwang zum Opfer. Aber selbst die Schrumpfvariante wurde nicht fertig: 2002 ging das Konsortium pleite.
Gebaut wurde dabei vor allem, was Profit versprach: Einzelhandelsflächen und ein Multiplexkino. Das Thema Aufenthaltsqualität interessierte herzlich wenig. „Architektonisch bietet der Platz keine Highlights, wer das erste Mal hier ist, denkt, es wäre eine umbaute Verkehrskreuzung“, sagt Uwe Klett. Einzig die angrenzende Alice-Salomon-Hochschule sei gelungen.
Zur Wahrheit gehört, dass zumindest das Schicksal des Marktplatz-Centers und mit ihm der „Hellen Mitte“ insgesamt wenig überraschend kam. Schon zur Eröffnung 1997 wurde befürchtet, dass das Konsumversprechen nicht von langer Dauer sein könnte. Der Grund dafür liegt etwa einen Kilometer nördlich in Brandenburg, kurz hinter der Stadtgrenze: der Kaufpark Eiche. Das 1993 errichtete Shoppingzentrum ist mit 60.000 Quadratmetern Verkaufsfläche dreimal so groß wie das Marktplatz-Center. Und der Kaufpark scheint passabel zu laufen. Große Einzelhandelsketten ziehen viel motorisierte Kundschaft aus dem Brandenburger Umland, aber eben auch aus Hellersdorf an.
Klar ist: Die in den 1990ern neu gebauten Malls kannibalisierten sich von Anfang an nicht nur selbst, sondern absorbierten auch den umliegenden Einzelhandel. Die fußläufig erreichbaren dezentralen Versorgungszentren fielen leer und wurden abgerissen. Ersetzt wurden sie durch das, was den privaten Erwerbern des ehemaligen Staatseigentums am meisten Profit versprach: neue Wohnanlagen oder eben auch Shoppingzentren.
„Nach der Wende wurde alles abgerissen“, sagt Anwohner Roland Kretzschmar bei der Stadtrandwanderung der Linken. Der 75-Jährige wohnt seit 1985 in Hellersdorf und hat miterlebt, wie sich der Stadtteil nach der Wende entwickelt hat. „Restaurants, Cafés, das, was du in der Innenstadt hast, fehlt hier.“ Auch Ärzt:innen gebe es kaum noch.
„Inzwischen gibt es in Hellersdorf eine richtige Versorgungskrise“, sagt Katalin Gennburg. Das sei besonders für die alternde Bevölkerung in den Großwohnsiedlungen dramatisch, die auf eine fußläufige Nahversorgung angewiesen sei, sagt die Linken-Politikerin, die schon lange für das Konzept der Sorgezentren wirbt. Platz wäre da. „In dem Bezirk gibt es mehr leere Malls als irgendwo sonst“, sagt Gennburg. Ob Kleeblatt-Passagen oder Ring-Kolonnaden: Auf der nicht einmal acht Kilometer langen Route der Wanderung finden sich noch fünf weitere, größtenteils leer stehende Shopping-Ruinen.
Wie genau das gelingen kann, skizziert Hannah Berner von der nach einem verödeten Einkaufszentrum am Treptower Park benannten Initiative „Sorge ins Parkcenter“. „Die Care-Krise ist besonders deutlich in den Ostgebieten der Stadt ausgeprägt“, sagt Berner. „Der demografische Wandel wird das Problem nochmal verschärfen.“ Die Krise in der Pflege betrifft einerseits die institutionalisierte Gesundheitsversorgung mit ihrem Ärzt:innen- und Pflegekräftemangel. Weniger offensichtlich sind die Auswirkungen im privaten Bereich, in dem sich Angehörige neben ihrer Berufstätigkeit um die Pflege ihrer Familienmitglieder kümmern.
Die leer stehenden Shoppingmalls zu Sorgezentren umzubauen, ist dann auch ein naheliegender Gedanke. „Einkaufszentren sind gut in die Kieze integriert, verkehrsmäßig gut angebunden und die Bewohner:innen haben sie schon in ihren Alltag integriert“, sagt Berner. Dort, wo Filialen von Großkonzernen vormals Klamotten und Unterhaltungselektronik verkauften, könnten Kitas, Tagespflegeeinrichtungen, Repaircafés und Nachbarschaftstreffs einziehen. Was genau in ein Sorgezentrum kommt, entscheide letztendlich die Nachbarschaft.
Katalin Gennburg, Linke
In spanischsprachigen Ländern wie Chile oder Spanien wurde die Idee bereits in die Stadtplanung integriert, die Initiative will sie nun nach Deutschland übertragen. Das Vorhaben steckt zwar noch in den Kinderschuhen, „Sorge ins Parkcenter“ hat nach eigenen Angaben aber bereits erste Nachbarschaftstreffen organisiert und eine symbolische Besetzung des Markplatz-Centers in Hellersdorf im Januar veranstaltet.
Die Idee der Sorgezentren konkurriert indes mit den Zukunftsplänen der Eigentümer der Shoppingcenter. Aroundtown, der multinationale Konzern, dem das Marktplatz-Center gehört, setzt auf ein „umfassendes Revitalisierungskonzept“. 2026 soll die Supermarktkette Rewe als neuer Ankermieter einziehen, dazu mehr Gastronomie und Dienstleistungen, außerdem soll modernisiert werden, teilt ein Sprecher von Aroundtown auf taz-Anfrage mit.
Die Organisator:innen der Stadtrandwanderung sind skeptisch, dass private Investoren die Versorgungskrise Hellersdorfs lösen können. „Die Umbrüche im Gewerbebereich sind viel zu groß, um sie mit Food-Courts und Erlebniskram zu füllen“, sagt Hannah Berner. „Das geht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.“
Auch Katalin Gennburg sagt: „Nahversorgung organisiert sich nicht von allein.“ Stattdessen brauche es wieder mehr politische Planung und Steuerung. Als die Wanderung an einem auf eine Grünfläche zwischen zwei Wohnriegel hingeklatschten Quartier mit neuen Einfamilienhäusern vorbeizieht, fügt die Linken-Politikerin noch hinzu: „Hellersdorf wurde den Investoren überlassen. Wir wollen den Stadtrand den Leuten zurückgeben.“
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