Grenze zwischen Norwegen und Russland: Ganz im Norden, an der Grenze
Im norwegischen Kirkenes wohnen viele Russen. Seit Februar 2022 nimmt die Stadt ukrainische Flüchtlinge auf. Wie lebt es sich in Kriegszeiten im Nordosten Norwegens?
G egenüber dem Russischen Generalkonsulat in Kirkenes lehnt eine Europalette an einem Gebäude. Auf ihr sind sechs Bilder von Alexei Nawalny zu sehen. Auf einem Foto formt die Hand des im Februar 2024 verstorbenen russischen Aktivisten ein Peace-Zeichen. Darunter auf Englisch ein Zitat des irisch-britischen Schriftstellers Edmund Burke: „Das Einzige, was für den Sieg des Bösen notwendig ist, ist, dass gute Menschen nichts tun.“ Zwischen den Holzplatten stecken Rosen, einige echte, einige aus Plastik. „An einem Tag machen Leute das Denkmal kaputt, beschmieren es“, sagt Liza.
Die Journalistin, die mit vollem Namen Elizaveta Vereykina heißt, ist in Russland geboren. In Skandinavien nennt man sich üblicherweise beim Vornamen – eine Tradition, die auch sie übernommen hat. Seit fünfzehn Jahren arbeitet sie als Journalistin, war unter anderem Korrespondentin für BBC World News. Sie lebte in Moskau, bevor sie nach Kirkenes kam. „Andere bauen das Denkmal dann wieder auf“, führt sie fort. Ein stiller Protest in einer Kleinstadt mit 3.500 Einwohnern im Norden Norwegens, von denen rund 500 aus Russland kommen.
Wie Liza dürfen die meisten Russen, die auf der norwegischen Seite der Grenze Storskog Grensestasjon bei Kirkenes leben, weiterhin ein- und ausreisen, und das Gleiche gilt für ihre nahen Verwandten. Seit September 2022 war Storskog die letzte offene Landgrenze zwischen Russland und dem Schengen-Raum für russische Staatsbürger auf Einkaufs- oder Urlaubsreise. Seit Mai 2024 ist sie dafür dicht. Norweger, die bis zu 30 Kilometer entfernt von der Grenze wohnen, dürfen mit einer Sondererlaubnis weiterhin die Grenze passieren.
2019 war Liza das erste Mal in Kirkenes für eine Recherche. Damals hatte sie mit Journalisten von The Barents Observer Kontakt, einem norwegischen Online-Medium, das Nachrichten in Englisch und Russisch veröffentlicht. „Bis Herbst 2022 war ich in Moskau, merkte aber ab Kriegsbeginn, wie sich schleichend etwas veränderte“, erzählt sie.
Russland war nicht so autoritär wie jetzt
Vor dem Krieg filmte sie Anti-Regierungs-Proteste in Russland, als Tausende von Menschen auf den Straßen waren, um Navalny zu unterstützen. „Es war immer ziemlich angespannt und autoritär in Russland, im Vergleich zu Europa. Aber nicht so autoritär wie jetzt. Man konnte noch protestieren.“ Bis die Polizei härter gegen Protestanten vorging – und auch gegen Journalisten. „Es wurden verrückte Gesetze erlassen, es stand unter Strafe, den Krieg Krieg zu nennen, wir mussten über die ‚spezielle Militäroperation‘ schreiben“, erinnert sie sich.
Als ihr Kollege aus London sie am Morgen des 24. Februar 2022 anrief, sagte er: „Liza, Russland ist tatsächlich in die Ukraine einmarschiert.“ Sie erinnert sich, was in den darauffolgenden Tagen passierte: „Sofort haben die russischen Behörden Gesetze erlassen, die jeglichen Journalismus verbieten. Die Regierung wollte, dass man nur offizielle Pressemitteilungen veröffentlicht, obwohl die meisten Journalisten wussten, dass es um die Verbreitung von Falschmeldungen ging“, erklärt Liza.
Für BBC World News arbeitete sie zunächst weiter in ihrem Heimatland. „Es war verdammt anstrengend und harte Arbeit“, sagt sie. Doch es brachte sie als Journalistin weiter, weil sie direkt vor Ort war und der Welt die Geschichten ihres Landes erzählen konnte. Sie erinnert sich an Gespräche mit Müttern, deren Söhne in Gefangenschaft geraten oder im Krieg gefallen waren, und an Massengräber in abgelegenen Dörfern. Doch je länger der Krieg dauerte, desto seltener wollten Menschen mit ihr sprechen – aus Angst vor Bestrafung durch die Regierung.
Als im September 2022 die Oblast Charkiw durch die Ukraine befreit wurde, startete Russland die Mobilmachung in Russland. Angst machte sich im Kopf der Journalistin breit, sie fragte sich, ob bald auch Frauen eingezogen und an die Front geschickt werden würden. Die Entscheidung, Russland zu verlassen, fiel ihr nicht leicht. Doch sie ging. „Lange dachte ich, dass es mich schützt, dass ich für ein Medium im Ausland arbeite“, sagt sie. Nach der Verhaftung des US-Reporters Evan Gershkovich im März 2023 in Moskau wurde ihr noch einmal bewusster, wie gefährlich Russland für Pressevertreter geworden war.
Der kleine Newsroom The Barents Observer bot Exil
Dann bekam sie von einer Gelegenheit in Norwegen mit. Dass das Medium, mit dem sie 2019 für ihre Recherche in Norwegen in Kontakt stand, vier Stellen für russische Journalisten geschaffen hatte, die ihr Heimatland verlassen wollten. Der kleine Newsroom The Barents Observer bot ihr Exil. Der Name des auf Englisch und Russisch erscheinenden Lokalmediums bezieht sich auf die Barentssee, ein Randmeer des Arktischen Ozeans nördlich von Norwegen und dem europäischen Teil Russlands. Möglich machte das der Chefredakteur Thomas Nilsen. Nach Beginn des Kriegs sammelte er Spenden. „Wir nahmen die Telefone in die Hand und erhielten Geld von Stiftungen, Privatleuten und von der Universität Tromsø. Am Ende hatten wir genug, um vier Exilrussen einzustellen“, erklärt Nilsen.
Seit über 20 Jahren gibt es den kleinen Newsroom in Kirkenes. Von außen wirkt das graue Gebäude wie ein Wohnhaus. Im zweiten Stock arbeitet das fünfköpfige Team, neben anderen Firmen. Die Büros sind durch Glaswände getrennt. Im Büro von Thomas Nilsen hängt eine kleine EU-Flagge, auf einer Kommode klebt ein Sticker mit der Aufschrift „Slava Ukraini“, auf ihr steht ein finnisches Bier, auf dessen Dose ein nackter Putin mit Atombombe in der Hand thront.
Ein Kollege von ihm gründete 2002 ein Medium namens Barents News, das über das Geschehen auf beiden Seiten der Grenze berichten sollte. Einige Zeit später wurde es in Barents Observer umbenannt, Thomas Nilsen ist seit 2008 dabei. Ein idealer Ort, denn bis zum Ende des Kalten Krieges war Kirkenes der einzige Ort, an dem die Nato eine direkte Landesgrenze zur Sowjetunion hatte. Bis 1988 gab es fast überhaupt keinen Kontakt zwischen den Ländern. „Wir sahen die Notwendigkeit eines Informationsaustauschs“, sagt er. Bisher reicht das Budget dafür, die vier russischen Exiljournalisten bis Ende 2025 zu beschäftigen. Liza ist nun seit mehr als einem Jahr hier und als Videoreporterin angestellt.
„Ab 2012 wurden die Dinge ein wenig problematischer, als der Machtwechsel zwischen Dmitri Medwedew und Wladimir Putin stattfand“, sagt der Chefredakteur. „Als wir im nordrussischen Murmansk recherchierten, wurden wir vom FSB, dem russischen Sicherheitsdienst, verfolgt. Sie mischten sich nicht ein, aber wir sahen, dass sie da waren, und sie wollten, dass wir es sehen“, erzählt Nilsen. Dadurch wurden die Menschen in Russland immer vorsichtiger und wollten kaum noch mit den norwegischen Journalisten sprechen.
Die junge Ukrainerin lebt dort seit November 2023
Im Jahr 2017 wurde er in Russland zur Persona non grata erklärt. 2019 kam eine Mail aus Moskau, dass nun Barents Observer dort gesperrt ist. Das hielt ihn und seine Kollegen jedoch nicht davon ab, weiter zu berichten – bis heute. Thomas Nilsen ist es wichtig, dass auch die Menschen in Russland weiterhin Zugang zu Informationen aus Europa haben. Die Sperre seines Mediums in Russland umgeht er unter anderem mit Mirror Sites – Kopien der Website von Barents Observer, unter einem anderen Link.
Auch Kseniia zog wegen des russischen Übergriffs auf die Ukraine nach Kirkenes. Die junge Ukrainerin lebt dort seit November 2023 als Flüchtling und arbeitet im Restaurant Aurora als Servicekraft. Wegen der Nähe zu Russland und ihrem Status als Geflüchtete möchte sie ihren vollen Namen nicht nennen. Sie lebt nun seit einem Jahr in Norwegen. „Vorher hatte ich anderthalb Jahre meine Eltern nicht gesehen“, erzählt Kseniia.
In einem skandinavisch-simplistisch eingerichteten Café erzählt die junge Frau aus Odessa von den letzten zweieinhalb Jahren. Sie spricht mit ruhiger Stimme und teilt ihre Geschichte, achtet darauf, detailliert und stringent zu erzählen. Als der Krieg ausbrach, wartete sie gerade darauf, einen Job auf der Fähre eines US-Unternehmens anzutreten. Der Arbeitsbeginn verzögerte sich, doch im März 2022 ging der Job auf dem Kreuzfahrtschiff dann doch los. Dort lernte sie ihren jetzigen Ehemann kennen – einen Peruaner, der wie sie auf dem Schiff arbeitete. Nachdem ihr Arbeitsvertrag endete, kehrte sie nicht in die Ukraine zurück, sondern reiste nach Peru, wo sie und ihr Freund heirateten und einige Zeit blieben. Ihre Eltern waren zu dem Zeitpunkt noch in Odessa.
„Wir wollten versuchen, ein normales Leben zu führen“, sagt sie. Als sie noch in Peru war, überlegten sie und ihr Ehemann, nach Kanada auszuwandern. Doch für ihn war es schwierig, dort ein Visum zu erhalten. „Meine Eltern haben angefangen, am Telefon viel Gutes über Kirkenes zu erzählen und über Norwegen.“
Ihre Eltern wollten nicht flüchten
Nach dem ersten Kriegsjahr beschlossen ihre Eltern, die Ukraine zu verlassen. „Ich machte mir Sorgen – meine Eltern sprechen kein Englisch, geschweige denn Norwegisch“, sagt sie. „30 Jahre arbeitete Papa im selben Unternehmen, im Hafen von Yuzhny, in der Region Odessa“, erzählt sie. Ihre Eltern wollten nicht flüchten. Als immer wieder der Strom ausfiel, auch im Winter, und ihre Eltern immer wieder im Auto saßen, weil es dort wärmer war als in ihrem Haus, entschieden sie sich zur Flucht.
„Sie flogen zunächst nach Oslo und beantragten Asyl“, sagt sie. Freunde ihrer Eltern waren zuvor nach Norwegen geflüchtet. „Mein Vater ist 54 und meine Mutter ist 52. Sie kamen im August 2022, das Wetter war gut und die Leute freundlich. Norwegische Freiwillige holten sie am Flughafen mit dem Auto ab, zeigten ihnen die Wohnungen, zeigten ihnen alles.“
Kseniia und ihr Ehemann entschieden sich dazu, auch nach Kirkenes zu ziehen. Möglich war das, weil Kseniias Eltern schon der nordnorwegischen Kommune zugewiesen worden waren. Kommt ein Geflüchteter in Norwegen an und hat noch keine Angehörigen im Land, kann er nicht entscheiden, wo im Land er leben wird. Die Behörden weisen ihm eine Kommune zu.
Kseniia spricht offen, chronologisch und detailliert. In ihren Worten schwingt Dankbarkeit, Resilienz und Reflexion mit, von Bitterkeit keine Spur. Den Kuchen vor ihr lässt sie erst mal stehen. Die junge Frau mit dem klaren Blick, der runden Brille und den schulterlangen Haaren erzählt von ihren Erinnerungen an die Monate der Unsicherheit. „Ich bin so stolz auf meine Eltern“, sagt sie. Vor ihrer Flucht haben sie ihr ganzes Leben nahe Odessa verbracht.
Dann räumt sie mit Vorurteilen auf. Oft werden Menschen in Skandinavien von der Außenwelt als kühl und schwer nahbar angesehen. Sie erzählt hingegen von der Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft der Norweger, die ihren Eltern beim Ankommen halfen. Gab es auch unangenehme Situationen für ihre Eltern hier? „Ja, aber selten“, sagt Kseniia. Ein russischer Arbeitskollege ihres Vaters hier in Kirkenes hörte auf, mit ihm zu sprechen, als er sagte, dass er aus der Ukraine kommt.
Einen Wunsch, den Kseniia hat? Ihrem Ehemann die Ukraine zeigen. „Er hat mir sein Leben in Peru gezeigt. Wo er aufgewachsen ist, wie er gelebt hat. Aber ich kann ihm mein Leben dort nicht zeigen. Wo mein Leben war. Ich vermisse meine Stadt sehr.“ Wann sie und ob zurückkehren kann, kann niemand sagen. Nach ihrer Ankunft in Norwegen konzentrierte sie sich erst mal darauf, schnell einen Vollzeitjob finden. „Hier gibt es gute Regeln für die Arbeit, man arbeitet nicht zu viel, hat ein normales Gehalt. Norwegen ist gut“, sagt sie.
Hier im Norden Norwegens trennt an einigen Stellen nur ein Flüsschen „den Osten“ vom „Westen“. Würde man hindurchlaufen, wäre das eine Straftat. Würde man nicht auf Google Maps schauen, wüsste man das möglicherweise gar nicht. Denn wenig weist darauf hin, dass ein paar Meter weiter Europa endet und ein Land anfängt, das mit der Ukraine, die mit Waffen durch Europa unterstützt wird, im Krieg ist.
Doch Russland war nicht immer der Feind Europas. Früher war der Feind ein heutiges EU-Land: Deutschland. Und die Russen, die Guten, die „Befreier“ in den Augen einiger in Norwegen. Damals, 1944, waren deutsche Soldaten im Gasthaus untergebracht, das Johns Eltern gehörte.
Daran erinnert sich der Norweger John Ottar Eriksen. Er wohnt mit seiner Frau Olga einige Kilometer außerhalb der Stadt Kirkenes. John ist 70 Jahre alt und liebt Geschichte. Sein Wohnzimmer bewegt sich optisch irgendwo zwischen Geschichts- und Heimatmuseum. Im Glaskasten seines Couchtisches liegen Relikte aus dem letzten Weltkrieg, auf dem Fernseher läuft eine Geschichtsdoku und in seinem prall gefüllten Bücherregal stehen drei Bände „Norwegens Krieg 1940–1945“, die Anthologie „70 Jahre Frieden an einer Grenze: 1944–2014“ und Tolstois „Krieg und Frieden“.
John trinkt aus einer Stalin-Tasse. Er sei ein stolzer Norweger, sagt er. Der Rentner arbeitete in der Holzindustrie und Fischerei. „Ich war schon viel in der Welt, Australien, Japan, China“, sagt er. Seine Erinnerungen erzählt er in Anekdoten, mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.
Er kritisiert „die Medien“. Und schenkt gleichzeitig einer Journalistin aus Deutschland das Vertrauen. Im großen Garten vor seinem Haus steht eine Rakete aus dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen die Sätze baut er zotige Witze und schwelgt in den Erinnerungen von Ausflügen nach Murmansk, wo er als „junger Mann“ Wodka mit „schönen russischen Frauen“ trank, nachdem der eiserne Vorhang gefallen war.
John fährt auch jetzt regelmäßig nach Russland. Die Mutter seiner Ehefrau Olga wohnt in Murmansk, die Familie hat dort ein Ferienhaus. „Wenn man sich an die Regeln hält, hat man nie Probleme“, sagt er. Er erzählt, dass er letztens nach einem Russlandbesuch einen Benzinkanister mit Wasser füllte und die norwegischen Beamten für einige Minuten im Glauben ließ, er schmuggele das Benzin, das von der EU sanktioniert wird. Der wasserbefüllte Benzinkanister scheint Johns stille Kritik zu sein: „Ich finde es paradox, dass ich eine Gurke kaufen kann, aber keine Zahnbürste. Ich kann in Russland Brot kaufen, ich kann Fisch kaufen, ich kann Bier kaufen. Aber kein Toilettenpapier, das ist verboten.“
Magnus Mæland, der Bürgermeister von Kirkenes, ist anders als John ein lautstarker Kritiker Russlands, seit Moskau seinen Angriff auf die Ukraine gestartet hat. Wiederholt hat er an Unterstützungskundgebungen für die Ukraine teilgenommen und angedeutet, dass er den Vorschlag unterstützt, die Straße vor dem örtlichen russischen Generalkonsulat in „Aleksei-Nawalny-Straße“ umzubenennen.
Der Blick auf Russland unterscheidet sich in Kirkenes von Gesamtnorwegen und selbst von Nordnorwegen. Im Jahr 2023 untersuchte eine Studie der Oslo Metropolitan University die Einstellung der Norweger zu Russland, mit besonderem Fokus auf Finnmark, zu dem auch Kirkenes gehört. Die Ergebnisse zeigen, dass die Menschen in dieser Region leicht unterschiedliche Meinungen zu Russland haben im Vergleich zu anderen Teilen Norwegens. 15 Prozent der Befragten in Finnmark denken, dass Norwegen alle Sanktionen gegen Russland aufheben sollte, während es in Nordnorwegen nur 6 Prozent sind. 20 Prozent in Finnmark sind der Meinung, dass Norwegen keine Waffen mehr an die Ukraine liefern sollte, im Vergleich zu 13 Prozent in Nordnorwegen. 93 Prozent der Menschen in der Grenzregion glauben, dass es wichtig ist, gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland zu haben, während es in Nordnorwegen nur 84 Prozent sind.
Auch John blickt kritisch auf die Distanz, die aufgrund des Kriegs zwischen Norwegen und Russland entstanden ist. „Wir hatten früher eine sehr gute Freundschaft mit Russland. Russische Musiker kamen nach Norwegen. Jedoch ist es derzeit sehr beliebt, Russland zu hassen“, sagt er.
Während des Zweiten Weltkriegs war Kirkenes einer der am häufigsten von sowjetischen Kräften bombardierten Orte Europas. Aufgrund ihrer strategischen Lage und der Stationierung deutscher Truppen und Versorgungseinrichtungen in der Region war Kirkenes ein wichtiges Ziel. Die Stadt war seit der Besetzung Norwegens durch die Deutschen im Juni 1940 ein wichtiger Marine- und Luftwaffenstützpunkt der Nazis. Rund 30.000 deutsche Soldaten waren hier stationiert. Als die Rote Armee ab Oktober 1944 die deutschen Truppen aus Nordnorwegen und Finnland vertrieb, befahl Hitler eine Zwangsräumung der gesamten Provinz Finnmark. Bewohner der Grenzstadt weigerten sich, das zu tun, und versteckten sich in den Höhlen und Minenschächten der Gegend. Angesichts des unerwarteten Widerstands der Norweger begannen die Deutschen mit der systematischen Zerstörung der Finnmark mit der Taktik der „verbrannten Erde“ – in der Region sollte kein einziges Haus übrig bleiben. Die versteckten Bewohner wurden schließlich von der Roten Armee gerettet, die am 25. Oktober 1944 in Kirkenes einmarschierte.
Die Menschen sprechen selten in Absoluten
Als Zeichen ihrer Dankbarkeit für die Befreiung errichtete die Stadt Kirkenes das Denkmal eines Soldaten der Roten Armee und zahlreiche Gedenktafeln in den umliegenden Dörfern. Am 23. Februar 2022 verneigte sich der russische Botschafter in Norwegen, Teimuraz Ramishvili, dort und legte Blumen nieder, um der sowjetischen Soldaten zu gedenken, die Finnmark befreiten. Wenige Stunden später begann der Ukrainekrieg.
John sagt, dass er aufgrund der Befreiung durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg auch positive Gefühle gegenüber Russland hat. Schließlich war der Hof seines Großvaters – eines Kommunisten – während des Zweiten Weltkriegs besetzt. Sein Opa war Bauer und hatte den schönsten Hof in Pasvik, einer Provinz in Finnmark, mit Kühen, Pferden und Sägemühlen. Großvater und Großmutter wohnten im ersten Stock des Bauernhofs, während im Stockwerk darüber ein deutscher Offizier lebte. „Bis heute hat das deutsche Militär ihre Zimmer nicht bezahlt“, scherzt er.
Liza sieht das allerdings etwas anders: „Die Sowjetunion hat Norwegen am Ende des Zweiten Weltkriegs befreit. Und die bestand aus verschiedenen Republiken: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Kirgisen, Turkmenen, also sehr unterschiedliche Nationalitäten“, sagt sie.
Hier, wo der Krieg so nahe ist, sprechen die Menschen selten in Absoluten. Sie koexistieren. Laufen auf den selben Straßen. Reißen manchmal eine Rose ab, stecken manchmal eine dazu. Verschieben aus Protest auch mal Blumenkränze. Vor einigen Monaten kursierte das Video einer Russin, die einen russischen Blumenkranz vor den norwegischen am sowjetischen Denkmal niederlegte: Olga, Johns Frau. Der Bürgermeister Magnus Mæland schob den russischen Kranz wieder zur Seite. Hinter der Kamera war Liza, die Journalistin, die das Ganze für Barents Observer filmte.
Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Texts wurde die Grenze bei Kirkenes als „EU-Landesgrenze“ bezeichnet. Das ist falsch. Es handelt sich um eine Grenze zwischen Russland und dem Schengenraum. Wir haben dies dementsprechend angepasst.
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