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In der braunen Zone

Die AfD holt bei der Bundestagswahl Ostdeutschland – und lässt CDU und SPD abstürzen. In Sachsen-Anhalt, wo nächstes Jahr gewählt wird, könnte das die erste AfD-Landesregierung bedeuten

Zum ersten Mal Mehrzahl: Protest gegen die AfD in Burg, Sachsen-Anhalt im Januar 2024 Foto: Harald Krieg

Aus Weißenfels und BerlinThomas Gerlach und Konrad Litschko

Der Kreisverband der CDU schart sich am Wahlabend im Weißenfelser Jägerhof um Dieter Stier, die Blicke gehen zum Bildschirm mit den Zahlen. „Dass das so groß wird …“ Der 60-jährige CDU-Direktkandidat klingt fassungslos. „Die haben einen Kandidaten, der hat nichts präsentiert.“ Und so ­einer räumt ab, nicht hauchdünn, sondern im Triumph? ­Martin Rei­chardt, Landesvorsitzender der AfD und Stiers Gegenspieler, ist der Wahlkreis 72 sicher.

Viermal hat Dieter Stier das Direktmandat im Süden Sachsen-Anhalts geholt. Ein fünftes Mal wird es nicht geben. Die AfD hat Stiers Revier geplündert, ebenso die anderen sieben Wahlkreise in Sachsen-Anhalt. Nicht anders bei den Zweitstimmen: Die AfD holt im Burgenlandkreis 44,4 Prozent, Spitzenwert für Sachsen-Anhalt, im ganzen Land sind es mehr als 37 Prozent. Die stolze „Sachsen-Anhalt-Partei“ kommt nur noch auf gut 19 Prozent und geht bei den Direktmandaten leer aus. 2017 holte sie noch alle. Die CDU, die hier seit 23 Jahren regiert, seit 14 ­Jahren mit Reiner Haseloff, liegt am Boden.

Und nicht nur in Sachsen-Anhalt, auch in den anderen ostdeutschen Flächenländern holt sie kein einziges Direktmandat mehr, bis auf drei gingen alle an die AfD. In Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern holte die AfD ebenso Zweitstimmenergebnisse von fast 40 Prozent. In der CDU, die sich im Osten als letzte Volkspartei versteht, ist die Unruhe groß. In Sachsen wird in einem aktuellen Brief von der CDU-Basis die Brandmauer zur AfD wieder infrage gestellt und Ministerpräsident Michael Kretschmer angezählt. Auch in Thüringen nennt die CDU das Wahlergebnis „ein Desaster“.

Am dramatischsten aber ist die Lage in Sachsen-Anhalt. Denn hier stehen im Herbst 2026 Landtagswahlen an – und wenn es so bleibt, führt schon rechnerisch kein Weg mehr daran vorbei, dass die AfD erstmals Teil einer Landesregierung wird. Oder zumindest, dass eine Landesregierung von AfD-Stimmen abhängig wird, von einer Partei, die in Sachsen-Anhalt seit 2023 als gesichert rechtsextrem eingestuft ist.

Als Dieter Stier 2009 zum ersten Mal kandidierte, gab es die AfD noch gar nicht. 2021 war es schon ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit AfD-Mann Reichardt, das Stier hauchdünn gewann. Nun hat Reichardt Stier gedemütigt und die ganze CDU gleich mit. Reichardt gab am Wahlabend die Richtung vor: „Unser Ziel ist ganz klar, den nächsten Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt zu stellen.“

Martin Reichardt ist ein politisches Irrlicht aus Goslar, das schon einige Parteien „durchhat“, von SPD, FDP und Republikanern ist die Rede. Er steht dem völkischen „Flügel“ der AfD nahe, der offiziell nicht mehr existiert. Reichardt ist ein Phantom, das ganz woanders wohnt und das sich, sie schwören es alle im Raum, im Wahlkreis nie hat blicken lassen. Ihn hingegen, sagt Dieter Stier, könne man anrufen, seine Handynummer sei bekannt.

Nun aber sind es auch AfD-Leute wie Christina Baum, die Sachsen-Anhalt im Bundestag repräsentieren. Die 68-Jährige gehört zu den Radikalsten, fabuliert über einen Genozid an den Deutschen und wurde zuletzt selbst von ihrem AfD-Landesverband in Baden-Württemberg nicht mehr aufgestellt. Woraufhin sie im Harz kandidierte und 39 Prozent holte. Oder Jan Wenzel Schmidt, eng verbandelt mit den rechtsextremen Identitären.

Dieter Stier dagegen ist ein anerkannter Agrarpolitiker, einer, der von hier kommt, der die Menschen kennt und ihre Geschichten. Der sich, wie viele hier, noch erinnern kann, was „Wahlen“ in der DDR bedeuteten, und der deswegen die Demokratie umso mehr zu schätzen weiß. Und jetzt das?

„Wir brauchen ein Rezept für den Osten“, sagt Stier, der seit 1999 in der CDU ist und sich vom Kreistag zum Bundestag hochgearbeitet hat. Doch welches Rezept? Stier, der auch CDU-Kreisvorsitzender ist, wirkt ratlos. 450 Mitglieder ist sein Kreisverband stark. Reicht das, um der AfD entgegenzutreten, einer Schimäre, die sich der Kommunalpolitik beharrlich verweigert, aber ihre Parolen aus vielen Handys brüllt? Die werden zur Landtagswahl im Herbst 2026 ganz sicher noch lauter.

„Dann könnte das Land unregierbar werden“, unkt Götz Ulrich. Der Landrat des Burgenlandkreises hat sich im Jägerhof dazugesellt. Gewiss, die Ergebnisse der Wahl ließen sich nicht eins zu eins auf die Landesebene herunterbrechen, fährt CDU-Mann Ulrich fort. Doch müssten jetzt Lösungen her. Ulrich führt aus: Die Kommunen und Kreise ächzen unter den Schulden, unter überbordenden Gesetzen und Verordnungen, die der Bund den Kommunen aufbürdet, unter Personalmangel und fehlender Finanzierung. Und der Osten müsse in Berlin angemessen vertreten sein. Nicht mit einem „Ostbeauftragten“, der sowieso nicht bis zur Regierung durchdringe, sondern direkt am Kabinettstisch.

Was aber, wenn trotz aller Lösungen die AfD bei der Landtagswahl triumphiert? Diese Frage wirft der Landrat selbst auf. Für einen Moment scheint Ulrich über seinen Gedanken erschrocken. Was, wenn alles nicht mehr hilft? Wenn die vielen Hunderte Millionen Euro, die wegen des Kohleausstiegs in die Region fließen, nichts bewirken? Wenn die Leuchtturmprojekte wie die neue S-Bahn-Strecke von Leipzig nach Gera oder die Bildungszentren in Naumburg und Zeitz nicht leuchten? Wenn etwas unverrückbar aus dem Lot ist?

Ulrich hat die Abstimmungen über den Fünfpunkteplan und das „Zustrombegrenzungsgesetz“ im Bundestag Ende Januar, bei denen die Union mit der AfD abgestimmt hat, deutlich kritisiert. Freie Mehrheiten, die gemeinsam mit der AfD errungen werden, würden zu „verheerenden Folgen“ führen, hatte Ulrich gewarnt. Es würde CDU-geführte Koalitionen in den Ländern unter Druck setzen. Jetzt ist es die CDU, die unter Druck gerät.

Und nicht nur sie, auch die Zivilgesellschaft. „Uns erreicht von den Initiativen gerade viel Resignation und tiefe Ratlosigkeit“, sagt David Begrich vom Magdeburger Verein Miteinander, der demokratische Projekte unterstützt. „Wenn es so weitergeht, wird die AfD hier kommendes Jahr allein regieren.“ Eine Gegenstrategie der Parteien sieht er bisher nicht. Für Begrich geht es jetzt darum, „demokratische Kerne“ zu erhalten. „Alle, die zivilgesellschaftlich aktiv sind, müssen sich zusammenraufen.“ Und es brauche einen neuen Modus. Die Strategie der Eindämmung der AfD sei „gescheitert. Jetzt müssen wir stärker in die Konfrontation gehen.“

Für Herbert Wollmann ist es in Berlin bereits vorbei. Der SPD-Mann aus Stendal, 74 Jahre, ein Notarzt und leidenschaftlicher Ruderer, gewann 2021 noch mit 27 Prozent das Direktmandat. Er habe dieses Mal sogar noch mehr Wahlkampf gemacht, aber früh gemerkt, dass er gegen die Stimmung nicht ankomme, sagt er. Dabei war auch Wollmanns Gegner unsichtbar: AfD-Kandidat Thomas Korell, ein Dachdecker und Hinterbänkler aus dem Landtag. „Der wurde von der AfD regelrecht versteckt, um nicht zu offenbaren, wie unfähig er ist“, sagt Wollmann. Am Ende gewann Korell mit 39 Prozent. Wollmann blieben 16.

Holte die SPD 2021 noch vier Direktmandate im Land, ging sie diesmal leer aus. Das Zweitstimmenergebnis halbierte sich auf 13,8 Prozent. Wollmann sucht nach Erklärungen. Sein Wahlkreis, die Altmark, stehe nicht schlecht da, gleich nebenan in Niedersachsen holte die SPD noch das Direktmandat. „Und da sind die Verhältnisse auch nicht besser.“ Die Leute wüssten gar nicht, wen sie mit der AfD wählten. „Da fragt man sich schon, wie lange das hier noch mein ­Zuhause sein kann.“

Wollmann bleiben nun noch Mandate im Stadtrat von Stendal und im Kreistag, die AfD stellt da bereits die größten Fraktionen – denen er Paroli bieten will. Für ihn kann es nur so gehen: eigene Themen setzen und dagegenhalten. Und die Landtagswahl 2026? Man könne nur hoffen, dass es zu einem Waffenstillstand in der Ukraine komme und sich die Wirtschaft erhole. Außerdem müsse SPD-Wissenschaftsminister Armin Willingmann, Reiner Haseloffs Vize, aus der Deckung kommen und offensiv die AfD und CDU attackieren. „Sonst kämpfen wir hier mit der Fünfprozenthürde.“

Vor allem aber wird es bei der Landtagswahl 2026 auf die CDU ankommen. 2021 konnte Ministerpräsident Haseloff, der damals schon in Rente gehen wollte, die AfD noch auf Abstand halten und 37 Prozent holen. Seitdem koaliert die CDU mit SPD und FDP. Gut möglich, dass Haseloff, vor Kurzem 71 Jahre alt geworden, seine Ruhestandspläne erneut ändern muss, um die AfD von der Staatskanzlei fernzuhalten.

Zwar hat Haseloff den Landesparteivorsitz schon vor Jahren abgegeben, seit 2021 heißt der CDU-Vorsitzende Sven Schulze, fast genauso lange ist Schulze Wirtschaftsminister. Allerdings ist er in Sachsen-Anhalt kaum bekannt, was schon unter ruhigen politischen Umständen ein Pro­blem wäre. Einige CDU-Kreischefs und Bürgermeister fordern, Haseloff müsse noch mal ran. Das klingt nach letztem Aufgebot.

Schulze und Haseloff lassen bisher offen, wer nächstes Jahr kandidiert. Dass der Sonntag eine Niederlage war, räumt Schulze ein. „Ganz klar.“ Aber mit der Regierung im Bund gebe es nun die Chance, Vertrauen zurückzugewinnen. Zweckoptimismus ist das. Die Union müsse bei Themen wie Migration in den Koalitionsverhandlungen hart bleiben. „Das treibt die Leute um, gerade nach dem Anschlag hier in Magdeburg.“ Die Landtagswahl schreibt Schulze noch nicht ab. „Die Menschen schauen ganz genau bei Wahlen, worum es geht. Das hat ja die letzte Landtagswahl gezeigt. Da ist noch alles offen.“ Eine Zusammenarbeit mit der AfD schließt Schulze aus. „Aber darum geht’s jetzt nicht. Wir kämpfen um unsere Themen und um ein starkes Ergebnis für uns.“

Dieter Stier, der spät am Wahlabend von der Kreis-CDU zur ­Aufmunterung einen ganzen Kasten Stier-Bier entge­gennimmt, kann diese Ansagen nach Berlin mitnehmen. Trotz ­Niederlage wird er dem neuen Bundestag angehören. Stiers poli­tische Existenz war über die Landesliste abgesichert wie mit einem Fangnetz. Für Bundes­länder und Parteien gilt das nicht.

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