Wahlerfolg der Linken: Das rote Berlin
Überraschend hat die Linke in Berlin die Bundestagswahl gewonnen. Sie positioniert sich als Bollwerk gegen den Rechtsruck – und als Kümmererpartei.
In Berlin haben sie das tatsächlich. Mit 19,9 Prozent der Zweitstimmen ist die Partei stärkste Kraft geworden – zum ersten Mal überhaupt. Es ist eine Zäsur für die Stadt und für die Partei, deren Vorläufer PDS zwar lange den Ostteil dominierte, aber im Westen nur vereinzelte Hochburgen hatte. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist diese Grenze gefallen: Mit Neukölln hat die Linke den ersten alten West-Wahlkreis ihrer Geschichte erobert – bundesweit. Es ist ein Ereignis von historischer Dimension – auf einer Stufe mit dem 2002 erstmals durch Hans-Christian Ströbele gewonnenen Direktmandat für die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg.
Dass der Linke Pascal Meiser nun auch diese Grünen-Bastion für die Linke eroberte, ist ebenso ein Zeichen für eine fundamentale Links-Verschiebung – zumindest innerhalb des Mitte-links-Spektrums. Dass Grüne und SPD in der Bundesregierung und im Wahlkampf nicht das Bollwerk gegen den Rechtsschwenk waren, dass beide einen Diskurs, der Migration vor allem als Problem sieht, zum Teil mit befeuert haben, all das hat der Linken Räume geöffnet.
Vor allem viele sich als links verstehende ehemalige Grünen-Wähler:innen wurden so zur Linken getrieben. Die SPD, von der kaum noch einer weiß, wofür sie steht, ist in Berlin gar auf den fünften Platz abgerutscht, noch hinter der AfD. Deren Aufstieg hat die Linke wohl mit abgebremst. Nirgends in der Bundesrepublik fiel ihr Zuwachs geringer aus als in Berlin.
Comeback nach der Krise
Noch vor drei Monaten wäre all das unvorstellbar gewesen. Zur Erinnerung: Mit Klaus Lederer hatte der mit Abstand prominenteste Berliner Landespolitiker die Partei mit Schimpf und Schande verlassen, mit ihm eine Handvoll weiterer Altgedienter. Die Partei, zusätzlich geschwächt durch die Abspaltung des Wagenknecht-Flügels, lag am Boden. In einer Umfrage zur Abgeordnetenhauswahl im November gaben noch fünf Prozent der befragten Berliner:innen an, die Linke wählen zu wollen. Das Überleben der Partei auch in ihrer Hochburg Berlin schien alles andere als sicher. Man könnte auch sagen: Sie war fast klinisch tot.
Ihre Wiederauferstehung lässt sich derweil nicht nur vor dem Hintergrund der bundespolitischen Rahmenbedingungen eines Migrationswahlkampfes samt Merz’schem Dammbruch verstehen – sie ist auch das Ergebnis eines Wahlkampfes, in dem die Partei sehr viel richtig machte. Die Fokussierung auf soziale Themen – Mieten, Preise, Umverteilung – verschaffte ihr Kenntlichkeit und ließ keinen Raum für innerparteilichen Streit, für den es durch die Abgänge ohnehin weniger Potenzial gibt. Sie arbeitete erfolgreich an ihrem Image als Kümmererpartei, bot Sozialsprechstunden, Mieten- und Heizkostenrechner an.
Dazu schüttelte sie ihr altbackenes Image durch einen Onlinewahlkampf auf der Höhe der Zeit ab. Spitzenkandidatin Reichinnek legte reichweitenstark vor, viele andere zogen erfolgreich nach. So beantwortete auch Gregor Gysi, der in Treptow-Köpenick mit mehr als 40 Prozent bereits sein neuntes Direktmandat in Folge gewann, in Tiktok-Videos Fragen zu seiner Hautpflege oder scherzte mit DJ-Gysi, einem Vermummten, der Gysi-Redeschnipsel mit elektronischer Musik vertont. Gysi sagte dazu am Montag: „Ich weiß, dass ich jetzt ein Meister bei Titok bin, ich weiß aber nicht, was ich da mache.“
Für einen Sieg bei der U18-Wahl hatte das für die Linke schon zuvor gereicht – und nun also auch bei den Großen. Vor allem junge Menschen rannten der Linken zuletzt die Bude ein. Allein in Berlin hat sich die Mitgliederzahl seit Jahresbeginn von mehr als 7.000 Menschen auf aktuell 12.700 erhöht, bundesweit sind Zehntausende in die Partei geströmt.
Intensiver Haustürwahlkampf
Doch die Basis für die Siege in Neukölln oder auch in Lichtenberg, wo Parteichefin Ines Schwerdtner die AfD-Adlige Beatrix von Storch demontierte, war ein Haustürwahlkampf, den es in dieser Form noch nicht gegeben hat. In Neukölln klopften 2.000 Freiwillige aus dem ganzen Land an zwei Drittel aller Türen dort – am Ende gab es kaum jemand, der Koçak nicht kannte. Der frisch Gewählte erzählt am Rande auf seiner Wahlparty, wie er im Wahlkampf von einer Klasse von Grundschulkindern umringt wurde, die ihn erkannt hatten und Autogramme wollten. 17 Prozent mehr Erststimmen und stärkste Partei nach den Zweitstimmen ist das Ergebnis eines regelrechten Hypes, in denen sich die Neuköllner Wahlkämpfer:innen hineinsteigerten. Zu erleben auch auf der Wahlparty der Linken Neukölln, für die es nach 800 Anmeldungen schon vorher keine Tickets mehr gab. Später sangen alle kollektiv „Bella Ciao“.
Auch in Lichtenberg gelang es Schwerdtner mit vielen Unterstützer:innen an jede zweite Tür zu klopfen. Bundesweit waren es 630.000 Haustürgespräche, bilanzierte sie am Montag – etwa die Hälfte dürfte auf das Konto der Berliner gehen. Mit dem „massiven Wahlkampfeinsatz“ habe man zu ihrer „besonderen Freude Beatrix von Storch vom Hof gejagt“, so Schwerdtner. Dass Lichtenberg gehalten wurde, wo PDS und Linke bisher stets das Direktmandat gewannen, hat für die Partei einen besonderen Wert.
Am Tag nach der Wahl auf der Pressekonferenz der Berliner Linken gibt es Blumen für die vier Wahlkreissiger:innnen, aber auch für Katalin Gennburg und Stella Merendino, die über die Landesliste in den Bundestag einziehen.
Gennburg war bislang Aktivposten ihrer Partei im Abgeordnetenhaus, verfehlte aber das Direktmandat in Marzahn-Hellersdorf, wo die AfD siegte. Merendino ist Krankenpflegerin, am Dienstag hätte sie „eigentlich Frühdienst“, nun müsse sie ihrem Chef beibringen, dass da aber schon Fraktionssitzung ist, sagte sie auf der Pressekonferenz am Montag. An einem Sensationssieg in Mitte war Merendino nur hauchdünn vorbeigeschrammt – „völlig verrückt“, wie sie befand.
Zeichen für Berlin?
Der Landesvorsitzende Maximilian Schirmer interpretierte das Bundestagsergebnis auch als Schlappe für die Regierenden auf Landesebene: „Der schwarz-rote Senat ist mit seiner Politik des sozialen Kahlschlags abgestraft worden.“ Mit seiner Kürzungspolitik habe er „die Stadt gegen sich aufgebracht“.
Und schon werden der gerade noch taumelnden Linken Fragen nach einem möglichen Wahlsieg bei der Abgeordnetenhauswahl gestellt, die bereits im nächsten Jahr wieder ansteht. Die Partei sei „bestens vorbereitet“, befand Schirmer; stecke bereits mitten in der Arbeit für eine linke Zukunftsvision. Womöglich heißt die ja auch in Berlin dann wieder Rot-Rot-Grün – in welcher Reihenfolge auch immer. Am Sonntag stimmten 51,8 Prozent für die drei Parteien. Berlin bleibt eben doch eine linke Stadt.
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